Überall in Großbritannien herrschen Chaos und Inkompetenz, meinte ich im letzten Post festzustellen. Überall? Natürlich nicht. Es gibt noch den ein oder anderen Teil des Königreiches, der vom umgreifenden Niedergang verschont geblieben ist. Ich könnte vom wunderbar zugänglichen und bestens organisierten Schatz an öffentlichen Daten erzählen, aber abgesehen von ein paar Datennerds wie ich es einer bin würde das kaum einen interessieren (hier könnte sich die Deuten Behören wirklich ein Beispiel nehmen.) Besser ich erzähle von meinem Ausflug nach Wimbledon, genauer von meinem Besuch von The Championships des All England Lawn Tennis and Croquet Club.
Was für ein herausragendes Erlebnis! Schon Tickets zu ergattern war überraschend einfach! Auf dem Gelände gibt es mehrere Tennisstadien, allen voran den Centre Court und No1. Court. Für diese kann und sollte man Tagestickets weit im Voraus erwerben. Einzelne Karten werden zwar für den Tagesverkauf zurückgehalten. Aber dafür campen Tennisfans in Scharen auf einer großen Wiese vor dem Eingang des Clubs. Nichts für mich.
Es gibt jedoch noch eine weitere Kategorie an Eintrittskarten, sogenannte ground tickets, mit denen kann man sich auf dem Gelände relativ frei bewegen und hat Zugang zu den restlichen Plätzen, inklusive den kleineren Arenen. Gerade in der ersten Woche des Turniers lohnt es sich ein ground ticket zu erwerben. Denn auf allen Plätzen wird fast durchgängig gespielt.
Die großen Superstars wie Djokovic oder Nadal wird man so nicht sehen. Aber die nächste Riege an Top-Spielern ist durchaus drin. Ich konnte ein Spiel von Daniil Medwedew verfolgen, der später im Jahr das Finale der US Open erreichte und sich für die ATP-Finals qualifizierte. Mit 25 GBP war der Kartenpreis sogar recht günstig.
Zwar sind ground tickets ebenfalls sehr beliebt, vor dem Gelände campen muss man jedoch nicht für sie. Es reicht sich an dem anvisierten Tag rechtzeitig aufzubrechen. Ich machte mich zum Beispiel erst um 9:00 auf meinen 90-minütigen Trip in den südwestlichen Teil Londons.
Bereits die Anreise hatte etwas Besonderes. Mit dem Wechsel auf meine finale U-Bahn, District Line ab Victoria Station, waren die Wagen mit Engländern alten Schlags gefüllt, vor allem ältere englische Ladies, in geblümten Sommerkleidern. Man reist in Gruppen, entweder schweigend oder sich leise unterhaltend. Ab und an hört man ein Lachen der Marke „Oh, how amusing, darling“. Die letzten Kilometer Richtung Tennisclub legten wir gemeinsam zu Fuß zurück. Alles sehr gesittet.
Am Einlass des Turniergeländes angekommen ist man zuerst von der langen Schlange der Wartenden geschockt. Sie schlängelt sich mehrere hundert Meter über eine Wiese. Das überaus freundliche Service-Team versicherte mir jedoch, dass ich noch gute Chancen habe auf das Gelände zu kommen. Spätestens bis 13:00 sollte ich es geschafft haben.
Nun musste ich nur noch das Ende der Schlange finden. Dabei irrte ich etwas verloren zwischen den Zeltreihen der Camper umher. Denn die Warteschlange war keine kein gewöhnliche, sondern von britischen Warteschlangen-Experten entworfen und über Jahrzehnte hinweg optimiert. Sie war in verschiedene Segmente aufgeteilt, die losgelöst voneinander existierten, aber per Code eindeutig identifizierbar waren.
Bei Ankunft hatte man mir einen Zettel mit Code in die Hand gedrückt, nun suchte ich meinen Abschnitt Zum Glück stand überall (wirklich überall) Service-Personal, die einen freundlich (wirklich sehr freundlich) an den richtigen Platz leiten. Nützlicher und freundlicher Service, wie überaus angenehm! Sonst ist man ja anderes gewohnt.
Am Eingang händigte man mir außerdem einen Flyer aus mit dem Titel „A Guide to Queueing“, auf Deutsch: „Eine Anleitung für das Schlange-Stehen“.
Im Wartebereich angekommen fing ich an zu lesen. Und eigentlich war der Flyer falsch deklariert. Auf seinen 33 Seiten waren alle möglichen Informationen gelistet, die man für einen Besuch der Championships benötigen könnte: Eine Karte des Geländes, Ticketpreise, Turnierprogramm, Anreiseinformationen, Öffnungszeiten, die Geländeordnung, Umwelt- und Sicherheitshinweise, sowie Informationen über das Museum, Restaurants und Wifi. Und ja, acht (8!!!) Seiten, die mir erklärten, welche Rechte, Pflichten und Optionen ich als Mitglied der Warteschlange hatte. Hier ein kleiner Auszug:
Man tritt der Schlange bei, indem man sich an ihr Ende stellt. (Habe ich gerade so geschafft.) Mit Beitritt der Schlange erhält man eine Codekarte mit aktuellem Datum. Die Karte sollte besser nicht verloren werden, man muss sie am Einlass vorzeigen. Außerdem darf man sie keiner anderen Person übertragen. Die Warteschlange darf für kurze Zeit verlassen werden, etwa für einen Toilettengang, eine Snackpause oder zum Beine vertreten, jedoch höchstens für eine halbe Stunde. Rauchen und übermäßiger Alkoholkonsum sind verboten. Ebenso wie asoziales Verhalten und laute Musik. Es kann übrigens mehrere Schlangen für verschiedene Tage geben.
Ground tickets werden verkauft, bis die Maximalkapazität des Clubgeländes erreicht wird. Verlässt ein Besucher das Areal vor Tagesende kann dieser sein ground ticket zurückgeben, um weiteren Personen den Zugang zu ermöglichen.
Der Verkauf der Tagestickets für die Stadien folgt diesen Prozedere: Um sechs Uhr früh werden die Camper von Stewards geweckt, damit sie eine reguläre Schlange bilden und eventuell ihre Zelte abbauen. Die Zelte in der Schlange dürfen für maximal zwei Personen ausgelegt sein. Ab 7:30 verteilen die Stewards Armbänder für die Stadiontickets, die noch im freien Verkauf sind. Ab 9:15 wird ein erster Abschnitt des Clubgeländes geöffnet, ab 10:30 steht das gesamte Gelände offen.
Tagestickets für die Stadien können ebenfalls im Laufe des Tages zurückgegeben werden. Ab 15:00 stehen sie in einem Kiosk auf dem Gelände für 10 bzw. 15 GBP ein zweites Mal für den Verkauf bereit. (Bitte rechtzeitig in die entsprechende Schlange stellen!). Der Erlös der Zweitverwertung geht an die Wimbledon Foundation.
Mein Schlangensegment bewegte sich in den ersten Minuten nicht, ich ließ die Umgebung auf mich wirken. Es ging weiterhin zivilisiert zu, man stand geduldig an, hielt Smalltalk mit seinen Nachbarn, ohne zu laut zu werden. Die Stimmung war wie in der U-Bahn am Morgen, freundlich, höflich, charming actually.
Dabei umgaben mich inzwischen nicht mehr nur ältere englische Ladies. Die Gruppe der Wartenden entsprach rein äußerlich etwas mehr dem Querschnitt der englischen Gesellschaft. Ein paar Meter vor mir stand eine Gruppe Männer im mittleren Alter deren Arme mit Tattoos übersäht waren. Jene Art von Männern, die unter der Woche in unserem Park abhingen, Bier tranken und rumgröhlten. Doch auch sie unterhielten sich hier in aller Stille und lachten höflich.
Einer der Männer hielt einen zusammenklappbaren Campingstuhl unter dem Arm. Irgendwann bemerkte er weiter vorne eine stehende alte Dame, die ihren 70. Geburtstag weit überschritten hatte. Er verließ seinen Platz, auf dem Weg zur Dame entfaltete er seinen Stuhl, und bot ihr diesen formvollendet an. Ich war sprachlos.
Langsam kam Bewegung in die Schlange, und es ging schneller voran als gedacht. Bereits nach einer Stunde war ich auf dem Gelände des Tennisclubs. Und was soll ich sagen, auch der Rest des Tages gestaltete sich besser als erwartet.
Nach dem Besuch des Souvenirladens, der geschickt am Eingang platziert ist, führte mein Weg Richtung Norden um No.1 Court. Nach einem schmalen Weg öffnete sich das Areal und gegenüber dem Stadion stieg das Gelände sanft an. Die Landschaft formte ein natürliches Amphitheater mit Blick auf einen Bildschirm, der an der Außenwand der Arena angebracht war. Gezeigt wurde ein Spiel vom Centre Court.
Der Hügel war durchgehend von Gras bewachsen. Auf der Wiese hatten es sich hunderte Leute auf Decken gemütlich gemacht. Sie aßen Snacks und tranken Pimm’s Cocktails, manche verfolgten das Match, viele quatschten oder dösten in der Sonne vor sich hin.
Ohne Frage war dies das angenehmste Public Viewing an dem ich je teilgenommen habe. Bei meinem letzten Erlebnis dieser Art stand ich zwei Stunden neben einem über-enthusiastischem Fan der DFB-Elf. Während des gesamten Spiels vollführte er Luftsprünge und rief permanent „Lu-Lu-Lu Lukas Podolski“. Er unterbrach seine Routine nur um sich auf meine Schuhe zu übergeben.
Nach kurze Pause ging ich zum oberen Ende des Amphitheaters. Dort erstreckt sich eine Ebene. Vor einem kleinen Gebäude saßen ein paar Personen im Gras und lasen Magazine. Sie bildeten die Warteschlange für die zurückgegebenen Stadion-Tickets.
Als nächstes besuchte ich einen Foodcourt, mein Magen hatte sich bemerkbar gemacht. Wieder wurde ich überrascht. Anstatt der üblichen überteuerten und ungenießbaren Stadionkost, erhielt ich eine annehmbare Portionsgröße, deren Preis und Qualität sich kaum von Läden in der Londoner Innenstadt unterschied. Die einzige Enttäuschung waren die Erdbeeren mit Sahne, reine Tiefkühlkost. Zumindest war der Preis angemessen niedrig.
Nach meinem Lunch nahm ich den Centre Court genauer unter die Lupe. Es stellte sich heraus, dass ich das Gebäude ohne Probleme betreten konnte. Erst an den Eingängen des Innenraumes standen Stewards und kontrollierten die Tickets.
Ich suchte mir einen etwas geschäftigeren Eingang, in der Hoffnung einen längeren Blick in den Innenraum werfen zu können, während die Stewards abgelenkt waren. Nach ein paar Sekunden unterbrach einer jedoch seine Ticketkontrolle und fragte mich freundlich ob ich nicht ein paar Stufen in den Innenraum treten möchte. Er zeigte auf meine Kamera und meinte: Von dort könne ich bessere Fotos machen. Und zwar so viele wie ich will. Ich bedankte mich und betrat perplex den Innenraum. Ich war noch nie einem so freundlichen Steward begegnet! (Zugegeben gerade fand kein Spiel statt, ansonsten hätte er mich wohl nicht hereingelassen).
Dummerweise sahen die Fotos von diesem Eingang aus etwas komisch aus. Ich machte mich auf die Suche nach einer besseren Perspektive. An einem mittig gelegen Eingang sprach ich den wartenden Steward direkt an, ob ich für meine Fotos nicht ein paar Schritte in den Innenraum gehen könnte. Der Steward fing an zu strahlen, als ob ich die Idee des Jahrhunderts gehabt hätte. Natürlich könne ich das! Machen sie so viele Fotos wie es ihnen gefällt! Und soll ich ein paar Fotos von ihnen schießen? Hier, diese Stelle ist dafür besonders gut geeignet!
Nach meinem Besuch des Centre Courts wanderte ich weiter nach Süden, wo die meisten kleineren Plätze lagen. An jedem Platz, an dem ich vorbeikam, verweilte ich ein paar Minuten und verfolgte die Ballwechsel. Schließlich stellte ich mich an einem der größeren Courts in die Warteschlange und verfolgte das Match von Medvedev in voller Länge.
Zwischen den Ballwechseln saugte ich wieder die Atmosphäre auf. Ich bewunderte die Skyline von London, welche sich am Horizont abzeichnete, oder die Architektur der Clubanlage.
Das Gelände des Clubs gleicht einem Garten. Rasen findet sich nicht nur am Amphitheater im Norden und auf den Tennisplätzen. Einige Wege wurden als Arkaden gestaltet. An den metallenen Bögen ragen Kletterpflanzen empor. Die backsteinernen Wände der Stadien sind fast komplett mit Kletterpflanzen bedeckt. Überall sind Blumen zu finden, auch an den Balkonen der Arenen und neben dem Bildschirm des Amphitheaters. Dazu schien die Sonne und ließ alle Farben strahlen. Die ganze Anlage sah wunderbar aus, wirkt harmonisch, in Frieden mit sich selbst und der Natur.
Wimbledon ist ohne Frage die Beste und angenehmste Veranstaltung, die ich je besucht habe. Alleine deshalb wollte ich meine Erfahrung mit ihnen teilen. Es gibt jedoch noch einen zweiten Grund. Ich hatte einen wunderbaren Tag inmitten britischer Klischees erlebt.
Die Landschaft glich einem Paradies. Alle Menschen waren ausgenommen freundlich und zuvorkommend, verhielten sich zivilisiert. Man trank Pimm’s, hielt Schwätzchen, betrieb Sport oder schaute zu. Alles war ordentlich, organisiert, einfach charming. In vielerlei Hinsicht ist Wimbledon die Manifestation des Ideals der britischen Lebensweise. Genauso gut hätte ich mich in einer Marketingkampagne der britischen Regierung befinden können. Britishness at its best.
Für ein paar glückliche Briten mag sich der Alltag wirklich wie Wimbledon gestalten. Doch die Explosion der Lebenshaltungskosten in den letzten Jahrzehnten, hat das Ideal der britischen Lebensart für immer weniger erreichbar werden lassen. Sie haben weder die Zeit noch die Kraft noch die Gelassenheit diesem Ideal zu folgen, vom Geld ganz zu schweigen. Stattdessen arbeiten sie sich in ein oder zwei Jobs kaputt und wissen oft immer noch nicht, wie sie das Geld für die Betreuung oder Ausbildung der Kinder aufbringen sollen, oder ob sie in ein paar Jahren überhaupt noch die Miete, bzw., nach dem nächsten Zinsanstieg, die monatliche Rate für den Hauskredit bezahlen können.
Das ist die neue britische Lebensart. Britishness at its worst. Leider.
(Sie haben doch nicht gedacht, dass ich einen ausnahmslos positiven Beitrag verfasse.)
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