Der Ausflug in die Geschichte des britischen Empire war mit mehreren Kapiteln für diesen Blog außergewöhnlich lang, gemessen an dem Umfang der Ereignisse aber sehr kurz. Das Thema ist komplex, viele Ereignisse habe ich bei meinen Ausführungen ausgelassen noch, mehr kenne ich gar nicht. Und doch bin ich um einiges schlauer als zuvor.
Der britische Blick auf die beherrschten Völker und die Pläne für das Empire haben sich immer wieder geändert. Zu jeder Zeit gab es verschiedene Strömungen in der Bevölkerung. Einige wollten den Beherrschten aufrichtig helfen, etwa durch die Vermittlung von Bildung, den Aufbau politischer Organisationen, und Teilhabe an der Verwaltung, andere waren darauf aus die Macht und Glorie Britanniens zu vergrößern, und viele waren vor allem an ihrem eigenen Vorteil interessiert. Welche der Strömungen gerade am stärksten die Ereignisse einwirkte, konnte sich alle paar Jahre ändern. Dazu kamen wechselnde äußere Einflüsse.
Durch meinen Ausflug meine ich zu verstehen, warum manche Briten glauben, sie seien etwas Besseres, dass die Völker der Welt in ihrer Schuld stehen, oder es kaum erwarten können, mit ihnen direkt Handel zu treiben. Ein einseitiger Blick auf die Vergangenheit kann diesem Glauben Vorschub leisten.
Dieser Interpretation folgend zogen die Briten aus, um in der Welt Zivilisation und Christentum zu verbreiten. Sie setzten sich für Freiheit, Recht und Demokratie ein. Per Freihandel verknüpften sie die Erdteile und sorgten für Wohlstand.
In den Kolonien formten sie eine neue Führungsschicht, geprägt durch fortschrittliche, westliche Ideen. Mit der Zeit übergaben sie mehr und mehr Verantwortung an die Einheimischen. Schließlich entließen sie die Kolonien in die Unabhängigkeit.
Der Übergangsprozess an sich ist ein weiteres Zeugnis „britischer Fürsorge“ und der „Überlegenheit britischer Moral“. Die Kolonien anderer europäischer Staaten mussten ihre Unabhängigkeit oft in blutigen Kämpfen erlangen. Die Beziehungen zu ihren ehemaligen Kolonien blieben auf Jahrzehnte in einem kritischen Zustand. Die britischen Kolonien schlossen dagegen im Commonwealth of Nations sofort neue Bande mit dem Mutterland. Man ist sich so freundlich verbunden, dass einige Staaten sogar die britischen Monarchen Staatsoberhaupt anerkennen.
Den Briten gebührt eine Sonderstellung unter den Völkern der Welt. Nicht (mehr), weil sie eine von Natur aus überlegene „Rasse“ wären, aber aufgrund ihrer historischen Verdienste. Denn abgesehen von ihren kolonialen Wohltaten kämpfte das Vereinigte Königreich im 20. Jahrhundert Seite an Seite mit Kolonien und Dominions für die Selbstbestimmung aller Völker. Wenn da mal nicht die ganze Welt in der Schuld Großbritanniens steht.
Doch diese Version der Geschichte ist eben extrem einseitig. In der Praxis ging mit der britischen Version von „Freiheit“ die Unterwerfung unter den britischen Willen einher, inklusive Ausbeutung, Mangelernährung, Verlust kultureller Identität und Drogenabhängigkeit. Bei Widerstand wurden britische Interessen mit Kanonenbooten und Maschinengewehren durchgesetzt.
Die Entlassung in die Unabhängigkeit wäre ohne die veränderte Weltlage nicht denkbar gewesen. Das Vereinigte Königreich war nicht mehr die alles beherrschende Macht, sondern stand nach dem 2. Weltkrieg geschwächt im Schatten der neuen Supermächte USA und Sowjetunion. Dass es keine größeren Freiheitskämpfe benötigte, lag nicht zuletzt an kühler wirtschaftliche Denke und dem Fokus auf zukünftigen Machterhalt auf Seiten der Briten und weniger an ihrem „zivilisatorischen Auftrag“.
Doch in den Köpfen vieler Briten scheint nur die geschönte Version der Ereignisse zu existieren. Erinnerungslücken werden nicht nur beim Glauben an die eigene Popularität in den ehemaligen Kolonien offensichtlich, sondern auch in der naiven Einwanderungspolitik der verschiedenen Regierungen. Nach der Jahrtausendwende verzichteten diese sofort auf jede Kontrolle der Einwanderung aus den neuen EU-Staaten im Osten des Kontinents, anders als Deutschland und Frankreich. Die Konsequenz: Es kamen viele, die Menge sorgte für Unzufriedenheit bei den Einheimischen, mit dem Brexit als Folge. Hatten wir das nicht schon mal? In den 1950ern? Als britische Regierungen Commonwealth-Bürgern die Einwanderung ohne bürokratische Hürden erlaubten und so Revolten auslösten? Konnte sich kein verantwortlicher Politiker mehr an die Lektion der Geschichte erinnern?
Allgemein habe ich das Gefühl, die Geschichte der letzten hundert Jahre hat kaum einen Einfluss auf die Weltsicht vieler Briten. Dieses passt besser zu den Verhältnissen in der Blütezeit des Empires als zu denen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Wieso schrumpfte das britische Ego nicht mit dem Status des Landes?
Sie merken, ich hatte weiterhin viele Fragen. Doch anders als zuvor meinte ich, nun über ausreichend Hintergrundwissen zu verfügen um mit meinen britischen Bekannten eine Diskussion beginnen zu können.
Zumindest war das der Plan, er war leider undurchführbar. Wurde ich in vertrauter Runde gefragt, was ich denn so triebe, erzählte ich von meinem Ausflug in die Geschichte. Ich begann zu erläutern, dass wir im deutschen Schulunterricht nur wenig über Kolonialgeschichte gelernt hatten, im Grunde erschöpfte sich das Thema mit dem Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und der neuen Welt. Über die Entwicklung im 19. Jahrhundert wurde uns nicht viel erzählt, daher…
Meist blickte ich dann schon in fragende Gesichter. Dreieckshandel? Nein, davon hatten die Freunde noch nichts gehört. Vielleicht war das Thema unter einem anderen Begriff bekannt? Ich versuchte es mit einer Beschreibung. Britische (Europäische) Händler kauften Sklaven in Afrika, verkauften sie in Amerika und den karibischen Inseln, luden dort Zucker, Tabak oder Baumwolle. Die Waren schifften sie nach Europa, wo mit dem Profit verarbeitete Produkte, etwa Textilien und Rum, gekauft wurden, um wieder nach Afrika zu segeln. Der fragende Gesichtsausdruck verschwand nicht. Sie hatten noch nie vom Dreieckshandel gehört.
Egal in welcher Runde ich über das Thema sprach, kaum jemand hatte eine Ahnung, wovon ich redete. Keiner von ihnen war dem Dreieckshandel in der Schule begegnet, nur wenigen war er durch TV-Dokumentationen oder Bücher bekannt. Die Unkenntnis betraf nicht nur den Dreieckshandel, sondern die gesamte Geschichte des britischen Kolonialismus.
Da war ich baff. Das Empire ist ein wichtiger Bestandteil der britischen Vergangenheit. Und sie ist immer noch relevant. Abgesehen vom Einfluss auf das britische Selbstverständnis, erklärt die Geschichte, warum Großbritannien auch heute noch über einige Kolonien und Militärstützpunkte in Übersee verfügt, woher die globalen Kontakte stammen, oder warum sich manche Völker mit den Briten verbunden fühlen, beziehungsweise sie nicht ausstehen können.
Wurde das Empire wirklich nicht in der Schule besprochen? Und wenn ja, warum? Jene Freunde, die sich zumindest ein wenig mit Kolonialgeschichte auskannten, gaben mir eine einfache Antwort: Die Briten sind zwar nicht die Oberschurken der Menschheitsgeschichte, doch war ihr Verhalten während der Kolonialzeit kein leuchtendes Vorbild für den Umgang mit anderen Menschen. Daher wird dieser Abschnitt der britischen Geschichte lieber ausgespart.
Stimmte die Erklärung? Ich wollte ihnen nicht so recht glauben. Vielleicht wurde das Thema an einzelnen Schulen aus eben jenen Gründen ausgespart. Aber durften sie überhaupt einen derart wichtigen Abschnitt der Geschichte übergehen? Um der Frage nachzugehen, war wieder etwas Recherche notwendig. Zum Glück sind die nationalen Lehrpläne exzellent auf den Web-Seiten der staatlichen Stellen dokumentiert [1]. Doch bevor ich mit meinen Ausführungen anfange, sei angemerkt, dass Schulbildung auf der Insel wie in Deutschland Länderangelegenheit ist, nachfolgende Ausführungen beziehen sich allein auf England.
Das Fach Geschichte wird bereits im 2. Schuljahr eingeführt, Year 1 genannt, und ist verpflichtend bis Year 9. In diesen neun Jahren wird einmal der nationale Lehrplan durchlaufen.
Nach dem üblichen Galopp durch die Antike steht im dritten Block, Year 7 bis 9, vor allem britische Geschichte im Fokus: Die Entwicklung des englischen Staates und der Kirche, der Industrialisierung und auch die des Empire, schließlich die Ereignisse nach 1901 [2].
Innerhalb der genannten Gebiete sind die Vorgaben jedoch nicht starr. Für Geschichte nach 1901 muss der Holocaust behandelt werden. Andere Themen wie der 1. Weltkrieg, die Frauenbewegung, der Aufstieg der Diktatoren, der 2. Weltkrieg, die indische Unabhängigkeit oder das Ende des Empire stehen zur Auswahl, sind keine Pflicht.
Bei den Jahrhunderten zuvor sieht es ähnlich aus. Dreieckshandel und Entwicklung des britischen Empire werden zwar vorgeschlagen, sind aber nur zwei Optionen unter vielen. Sie konkurrieren etwa mit der Aufklärung in Europa und Großbritannien, der Industrialisierung im Vereinigten Königreich, der Politik der damaligen englischen Parteien, der Geschichte der Sozialreformen und der Evolutionstheorie.
Da fällt es leicht, den schwierigen Teil der eigenen Vergangenheit zu umgehen. Auch bei einer erweiterten Umfrage in unserem Bekanntenkreis begegnete mir kein Brite, der in der Schule großartig mit dem Empire konfrontiert worden wäre.
Ein Grund könnte das Alter der Schüler sein. In Year 9 sind diese gerade mal 13/14 Jahre jung. In der Altersstufe dürfte eine kritische Auseinandersetzung mit komplexen Themen schwerfallen, in den Jahrgängen darunter erst recht.
Das ist ein großer Unterschied zu meinem Unterricht in Deutschland. Erst in der sechsten Klasse, mit 11 Jahren, wurde Geschichte als Schulfach eingeführt und war bis zu 13. Klasse verpflichtend. Im Vergleich zu den neun Jahren in Großbritannien, musste ich mit nur acht Jahren Unterricht auskommen. Jedoch ist in einem Alter von 16 oder 18 eine andere Auseinandersetzung mit komplexen Themen möglich als mit sechs, neun oder dreizehn Jahren.
Ich finde die englische Herangehensweise höchst bedenklich. Ziel von Geschichtsunterricht sollte das Aufzuzeigen von Strömungen sein, die die heutige Gesellschaft hervorgebracht haben, ob auf nationaler oder internationaler Ebene. Unsere heutige Lebenswelt ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Resultat technologischen Fortschritts, von sozialen Entwicklungen, Kriegen und Krankheiten, von großen Errungenschaften, sowie von Katastrophen, natürlichen wie Menschen gemachten. Nur durch eine ausgewogene Betrachtung lernen wir, warum wir so sind wie wir sind.
Und wir lernen, dass Gesellschaften immer im Fluss sind. Ein Blick in die Vergangenheit lohnt sich alleine schon, um die Fehler vergangener Generationen nicht zu wiederholen.
Ich habe zu diesem Thema wirklich eine dezidierte Meinung. Aber ich bin eben im deutschen System sozialisiert worden. Mit unseren dunkelsten Jahren, der Zeit des Nationalsozialismus, wurde ich drei Mal ausführlich im Unterricht konfrontiert, zweimal in Geschichte, einmal im Deutschunterricht. Wir sollen und wollen nicht wieder in diese Barbarei abrutschen.
Außerdem gehört es zum deutschen Ideal von Bildung, über ein detailliertes Allgemeinwissen zu verfügen. Bildung heißt ein möglichst gutes Verständnis der Welt zu haben. Und Wissen ist ein Grundstein zum Begreifen der Welt.
Als ich unseren Bekannten meine Ansichten darstellte, stieß ich auf kein Verständnis. Vielleicht ist es bedauerlich, nicht mehr über die britische Vergangenheit zu wissen, aber wichtig ist sie nicht. Eher nutzlos… Es scheint mir in Großbritannien hat man eine andere Auffassung von der Bedeutung von Geschichte. Oder gar von Bildung im Allgemeinen?! (Mehr dazu im nächsten Beitrag.)
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[2] Falls das Fach in Year 10/11 und 12/13 weiter belegt wird, werden einzelne Themen genauer untersucht.
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