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AutorenbildAndreas Eich

Das heutige politische System Großbritanniens und seine Schwächen

In einem vorherigen Post fasste ich einige moderne demokratische Standards zusammen – Festhalten der grundlegenden Rechte und Gesetze in einer Verfassung, Mechanismen um eine Diktatur der Mehrheit zu verhindern, wie die Aufteilung der Legislative auf verschiedene Institutionen – beschrieb die Vorreiterrolle Großbritanniens bei der Entwicklung vieler moderner demokratischer Prinzipien – wieder Aufteilung der Legislative – und wie es die Briten über Jahrhunderte geschafft haben ihr politisches System durch Reformen und nicht durch Revolutionen an gesellschaftliche Veränderungen anzupassen. Mit der Fähigkeit zu friedlichen Veränderungen nehmen die Briten wieder eine Vorreiterrolle ein. Doch so sehr viele der Reformen zu ihrer Zeit fortschrittlich und richtig waren, ist das System in seiner Gesamtheit nicht in der Moderne angekommen. Manche Reform wirkt im Rückblick gar als auf lange Sicht kontraproduktiv.



Heute gestaltet sich das politische System grob wie folgt. Offiziell geht immer noch alle Macht von der Krone aus, mit ein Grund warum es keine Verfassung gibt, und das Volk nicht der Souverän des Staates ist, wie in modernen Demokratien üblich.

Andere Institutionen erhalten Macht und Kompetenzen durch Übertragung. Tatsächlich nehmen die Monarchen aber nur noch eine zeremonielle Rolle ein. Einige Aufgaben, zum Beispiel die eigenmächtige Erhebung von Steuern, sind ihnen per Gesetz untersagt, andere exekutive Aufgaben sind durch das Gewohnheitsrecht stark eingeschränkt.

Gleiches gilt für die Legislative. Die Krone bringt keine Gesetzesvorlagen ein, doch ohne die Unterschrift des Monarchen können keine neuen Gesetze in Kraft treten. Elizabeth II. hat etwa nie Anstalten gemacht, ihre Unterschrift zu verweigern. Praktisch handelt es sich um eine Formalität.

Im House of Lords stellen Erbadel und Kirche nur noch einen kleinen Teil der Abgeordneten. Die meisten Mitglieder sind auf Lebenszeit ernannte life peers. Sie werden durch den Monarchen auf Vorschlag des Premierministers ernannt. Die Auserwählten haben sich oft durch besondere Leistungen im Beruf oder Gesellschaft ausgezeichnet.

Das Oberhaus hat im Laufe der Zeit fast seine gesamte Macht verloren und agiert nur noch als beratende Kammer. Gesetzesvorlagen, die das Unterhaus passiert haben, werden weiterhin von den Lords besprochen und sie stimmen über diese ab. Die Lords können Änderungsvorschläge erarbeiten und mit der Vorlage zurück ins Unterhaus geben. Meist nimmt man dort die Vorschläge ernst und es wird versucht, die Ansichten beider Häuser zusammenzubringen. Die Commoners sind aber nicht gezwungen, die angeregten Änderungen zu akzeptieren. Sie können ihren Gesetzesvorschlag immer durchbringen. Das Oberhaus kann den Prozess verlangsamen, maximal um ein Jahr, aber nicht aufhalten.

Somit verfügt in der Praxis fast nur das Unterhaus über legislative Macht. Als Demokrat muss man den Rückzug der nicht gewählten Institutionen grundsätzlich positiv sehen. Doch die resultierte Konzentration auf ein Entscheidungsgremium hebt widerspricht dem Prinzip der Machtaufteilung, der gesellschaftliche Interessensausgleich wird erschwert.

Bei der Wahl der Exekutiven hat sich, wie letzten Beitrag beschrieben, durchgesetzt, dass der Mehrheitsführer des Unterhauses vom Monarchen mit der Regierungsbildung beauftragt wird. Damit ist per Konvention auch die Exekutive von demokratischen Prozessen abhängig und harmoniert in der Regel mit der Legislativen. Mit einer stabilen Mehrheit im Unterhaus, kann eine Regierung ohne größere Reibereien ihre Agenda verwirklichen. Praktisch, aber die Regelung geht wieder auf Kosten des Interessensausgleichs.

Und es gibt einen dritten Umstand, der den Ausgleich hemmt: Die Zusammensetzung des Unterhauses wird immer noch rein nach Mehrheitswahlrecht bestimmt. Die Bürger haben nur eine Stimme, mit der sie den Abgeordneten ihres Wahlkreises bestimmen.

Wie in Deutschland gehören die meisten Kandidaten Parteien an. Zumeist kennt man eher Parteiprogramme als Kandidaten und wählt nach Agenda, nicht nach Persönlichkeit. Dies übervorteilt stärkere Parteien, denn nur deren Kandidaten haben eine realistische Change Wahlkreise zu gewinnen. Aktuelles Beispiel aus Deutschland: Bei der Wahl in Bayer 2023 gewann die CSU 37% der Zweitstimmen und erhielt etwa diesen Anteil an Sitzen im Parlament, wie in der Legislaturperiode zuvor ist die Partei für die Regierungsbildung auf einen Koalitionspartner angewiesen. Dagegen haben CSU-Kandidaten in 85 von 91 Wahlkreisen die meisten Stimmen erhalten. Würde das bayrische Parlament rein durch direkt gewählte Abgeordnete besetzt, die CSU könnte in Bayern schalten und walten wie es ihr gefiele.

Natürlich würden manche bayrische Wähler bei einem reinen Mehrheitswahlsystem anders abstimmen. Doch generell werden eben große Parteien bevorzugt. So erhalten in Großbritannien konservative Partei und Labour in der Regel mehr Sitze als ihnen nach Stimmenverhältnis zusteht. Von einem 90-prozentigen Sitzanteil können die Großen zwar nur träumen, aber in der Regel verfügt eine der beiden Platzhirsche über die Mehrheit im Unterhaus. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es nur zwei Gegebenheiten, bei denen eine Partei diese verfehlte.

Nun könnte man hoffen, ein gewisser Interessenausgleich sei dadurch gegeben, dass alle Member of Parliament (MP) mit einem starken Mandat ihres Wahlkreises ausgestattet sind. Sie könnten den Vorgaben ihrer Partei weit weniger verpflichtet sein als jene deutschen Bundestagsabgeordneten, die nur über Parteilisten ins Parlament einziehen. Doch dem ist nicht so. Die Abhängigkeit der MPs ergibt sich über die Prozedur, mit der die Parteien ihre Kandidaten aufstellen. Jede hat ihre eigenen Verfahren. Die konservative Partei, auch Tories genannt, hat für Interessierte einen schönen Info-Flyer ins Internet gestellt, den ich hier gerne zusammenfasse [1].

Wer für die Partei antreten möchte, kann sich über eine zentrale E-Mail-Adresse bzw. Telefonnummer melden. Hat man sich bei der Kontaktaufnahme nicht disqualifiziert, wird man zu einem Forum in seiner Region eingeladen. Dort treffen Interessenten auf Parteimitglieder, man kann sich informell austauschen.

Im nächsten Schritt werden die Interessenten gebeten, ein Bewerbungsformular auszufüllen. Auf diesem sollen sie detailliert Auskunft über ihre politische Erfahrung, ihre Karriere, und generell über ihr Leben geben. Denn die Partei „…will try to discover more about you as a person”. Schließlich sind drei Referenzen anzugeben. Am besten gehören der Arbeitgeber und/oder ein Parteimitglied dazu.

Sind die Konservativen ihrerseits interessiert, werden die Anwärter zu einem Parliamentary Assessment Board eingeladen. Formale Vorrausetzungen sind eine Parteimitgliedschaft von mindestens drei Monaten, sowie die Zahlung von 250 Pfund Teilnahmegebühr (Alles kostet auf der Insel Geld). Danach steht ein Treffen mit höhergestellten Mitgliedern und MPs an. Diese checken zum einen die politische Überzeugung der möglichen Kandidaten. Dabei geht es jedoch nicht um Detailfragen. Im Flyer wird sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, die genaue Kenntnis des Parteiprogrammes sei nicht nötig. Wichtiger sind Eigenschaften wie Kommunikationsfähigkeit, Intellekt, Führungsfähigkeiten, und the ability to relate to people.

Haben die Anwärter die Prüfer überzeugt, ein brauchbares Instrument der Partei sein zu können, werden sie einer zentralen Approved List of Pariamentary Candidates hinzugefügt. Nun dürfen sie sich bei lokalen Partei-Gremien auf eine Kandidatur in deren Region bewerben. Die Chancen sind natürlich höher, wenn die Interessenten im Wahlkreis leben, oder zumindest in unmittelbarer Nachbarschaft. Damit jedoch die Vertreter der Parteispitze im Unterhaus vertreten sind, können sie in recht sicher zu gewinnenden Wahlkreisen antreten.

Entscheidend für die Kontrolle der Abgeordneten ist die Zugehörigkeit zur List of Parliamentary Candidates. Schießt ein MP im Unterhaus regelmäßig quer, kann er von der Liste gestrichen werden. Er wird nicht mehr für die Tories antreten können. Ein prominenter Kopf mag bei der nächsten Wahl sein Glück als freier Kandidat versuchen, doch ein gewöhnlicher Abgeordneter wird ohne die Unterstützung der Partei aus Geld, Helfern und Kontakten keine Chance haben. Kommt es zu keinem breiten oder koordinierten Aufstand unter den eignen Abgeordneten, ist die Mehrheit der Regierung im Unterhaus sicher. Vor allem die Tories sind viel stärker von oben nach unten organisiert als deutsche Parteien.

Doch die Abgeordneten des Unterhauses geben sich generell recht zahm gegenüber der Regierung. Iin Großbritannien gibt es inzwischen wie in vielen modernen Demokratien parlamentarische Ausschüsse oder Fragestunden, in denen Regierungsverantwortliche vor dem Unterhaus Rede und Antwort stehen müssen. Letztere sind sogar berühmt und berüchtigt. Doch die Tagesordnung im Unterhaus obliegt vor allem der Regierung. Denn laut Standing Order 14 des Hauses haben Regierungsangelegenheiten Vorrang vor anderen Punkten. Der Opposition stehen während einer Session 20 Tage zur Verfügung, an denen ihre Themen Vorrang erhalten. (Eine Session dauert in der Regel 1 Jahr.) Sie werden eher nicht genutzt, um der Regierung direkt in die Parade zu fahren, sondern um das eigene Profil zu schärfen. Des Weiteren wird den Anliegen von einfachen Abgeordneten, backbenchern, an 27 Tagen Vorrang gegeben. Hier wählt ein Komitee aus eingereichten Themen aus, welches ungefähr nach der Zusammensetzung des Unterhauses besetzt ist, gegen die Regierungsmehrheit wird also eher nicht entschieden…

Standing Order 14 wurde sich vom Unterhaus selbst aufgelegt und zum ersten Mal im Jahr 1902 formal festgehalten. Ihr Ursprung könnte in den 1870ern liegen [2]. Die Order kann mit einfacher Parlamentsmehrheit abgeschafft bzw. für spezielle Themen ausgesetzt werden. Dies geschieht jedoch selten.

Ein Beispiel: Anfang des Jahres 2019 durfte das Parlament die von Theresa Mays Regierung ausgehandelten EU-Ausstiegsformalitäten diskutieren. Zuvor waren die Verhandlungen nie von der Regierung auf die Tagesordnung gesetzt worden. Erst mit der Abstimmung über das Ergebnis Im Dezember 2018 war dies möglich, und es zeichnete sich keine Mehrheit hab. Schließlich durfte das Unterhaus selbst bestimmen worüber es diskutierte, um herauszufinden wie überhaupt die Stimmungslage im Parlament war. Wie sich herausstellte, war für keine Optionen - von er Regierung verhandelt oder nicht – eine Mehrheit zu finden. Der gesamte Brexit Prozess musste verschoben werden, weil die Regierung, wie in Großbritannien üblich, das Unterhaus – und damit den Souverän - kaum in seine Arbeit integrierte. Wie gesagt, jeglicher Mechanismus die Diskussion und den Ausgleich von verschiedenen Interessensgruppen zu fördern, ein grundlegendes Prinzip moderner Demokratien, ist im britischen System abhandengekommen.

Im Ergebnis regiert ein britischer Premierminister in der Regel wie ein kleiner König. Die Parteien sind mehr oder weniger hierarchisch aufgebaut. Über sie kontrolliert er die Mehrheit im Unterhaus und damit das Haus selbst. Von der Regierung unabhängige legislative Institutionen sind nicht zu befürchten. Ein Checks and Balances wie im amerikanischen oder deutschen System gibt es nicht. Der Premier kann ohne große Störungen durchregieren. Es sei denn, die Kontrolle über die eigenen Abgeordneten geht verloren wie im Dezember 2018 oder der Regierungschef verhält sich ungesetzlich. Dann greifen die Gerichte ein.

Damit verstehe ich auch langsam, warum die Briten ein so großes Problem mit dem politischen System der EU hatten. Die Union fußt auf modernen, demokratischen Prinzipien, besonders dem Interessensausgleich wird ein großes Gewicht gegeben. Es kommt notgedrungen zu Verhandlungen zwischen politischen Gegnern und zu Kompromissen. All das ist den Briten fremd.

Die EU wurde von vielen Brexiteers als Diktatur diffamiert, als ein System, dass ihnen fremde Entscheidungen aufzwang. Doch das war nie der Fall. Grundlegende Rechte der Briten und ihres Staates waren besonders geschützt. Manche Gesetzte erforderten die Zustimmung aller Mitgliedstaaten, andere die Mehrheit in verschiedenen Gremien. Ja, in der Praxis haben Entscheidungen länger gedauert, und das Ergebnis war oft genug ein Kompromiss. Aber eben ein Kompromiss der von allen oder einem Großteil der Mitglieder getragen wurde. Und gegen die grundlegenden Interessen der Briten ging nichts.

Das politische System Großbritanniens ist dagegen oft genug problematisch. Zwar ist das Unterhaus demokratisch gewählt, und Großbritannien ein Rechtsstaat. Doch es ist ein System entstanden, in dem eine schwache „Diktatur der Mehrheit“ durch eine andere abgelöst wird. Selbst große Anpassungen bedürfen nur der Zustimmung eines einzigen Gremiums und erfordern dort (meist) nur eine einfache Mehrheit. Denn es gibt keine Verfassung mit besonders geschützten Gesetzen. Solange eine Regierung über eine Stimme mehr als die Opposition verfügt, hat sie das Land in der Hand... in einem gewissen Rahmen.



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