In meinen Post Deutsche sind Ingenieure, Briten sind Businessmen habe ich mich mit den unterschiedlichen Mentalitäten der beiden genannten Völker beschäftigt und Beispiele für die Charakterisierung genannt (von der industriellen Revolution bis zur Entwicklung moderner Computer). Zum anstehenden Saisonstart der Premier League möchte ich den Vergleich fortsetzen. Denn wie bereits Urs Siegentahler, langjähriger Chefscout der deutschen Fußballnationalmannschaft wusste, ist Fußball ein Spiegel der Gesellschaft. Das Spezial wird aus zwei Teilen bestehen. Im vorliegenden Beitrag werde ich zeigen, dass auch in den jeweiligen Fußballkulturen der deutschen Ingenieursgeist und der britischen Fokus auf das Business zu finden sind. Im zweiten Beitrag beschäftige ich mich mit der Frage beschäftigen, welche Lehren die von Krisen gebeutelte britische Gesellschaft aus dem Erfolg der Premier League ziehen kann und welche Gefahren bei einem reinen Kopieren bestehen.
Eine kleine Anmerkung: Ich werde in mich in meiner Betrachtung vor allem auf den Fußball im Herrenbereich beziehen. Denn obwohl der Frauenfußball mit der aktuellen Weltmeisterschaft eine noch nie dagewesene Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist er leider noch weit davon entfernt in der Mitte der Gesellschaft verankert zu sein, wie es der Herrenfußball seit vielen Jahrzehnten ist. Aber fangen wir an.
Seit der Erfindung des Spiels vor knapp 150 Jahren hat sich das Spiel enorm verändert. Doch keine der großen Innovationen stammt aus Deutschland. Zwar galt die Bundesrepublik als Land des Liberos, und heute als Land des Gegenpressings. Nur erfunden haben wir die Spielarten nicht. Der „freie Spieler“ wurde in Italien entwickelt. Und beim modernen Gegenpressing war Pep Guardiolas FC Barcelona stilbildend. Die Innovationskraft der deutschen Ingenieure liegt eben im Verbessern von Bestehendem statt im Hervorbringen von etwas Neuem.
Dem Erfolg der DFB-Auswahl hat der Mangel an Innovation nicht geschadet, bei 38 Welt- und Europameisterschaften im Herrenfußball stehen 22 Halbfinalteilnahmen und sieben Titel zu Buche (Stand 2022). Deutsche Auswahlteams gelten als Turniermannschaften. Unstimmigkeiten im Ablauf werden erkannt und verbessert. Die kurze Vorbereitungszeit vor den Wettkämpfen ist dabei ein Vorteil. In wenigen Wochen aus den vorhandenen Möglichkeiten das Beste zu machen, liegt den deutschen Ingenieuren.
Das Problem mit der Denke ist nur, wir halten an Bewährtem fest, bis uns die Konkurrenz abgehängt hat. Nicht ohne Grund leisten sich deutsche Auswahlteams ihre größten Schnitzer bei Titelverteidigungen, wenn das Konzept überholt und die Spieler alt geworden sind. Die Mannschaft schied sechs Mal in einer Gruppenphase aus, vier Mal als amtierender Champion.
Die historisch langanhaltende sportliche Misere scheint mir ebenfalls ein Abbild der Gesellschaft zu sein: Nach Jahren des Erfolgs ist dieser etwas abhandengekommen. Das Bewährte nervt und hat sich abgenutzt, aber es fehlt die Motivation neue Ideen zu entwickeln oder anzunehmen. (Wobei andere Staaten gerne unsere Krisen hätten.) Die Bundesregierung wird von einer billigen, männlichen Kopie Angela Merkels geführt, dabei war das Land doch Merkel-müde. Sportdirektor der Herrenmannschaft wurde nach monatelanger Suche Rudi Völler. Dabei war Völler gerade in den Ruhestand gegangen…
Aber schauen wir nach Großbritannien. Die Engländer haben den Fußball erfunden, wie so viele moderne Errungenschaften. Anders als z.B. bei der industriellen Revolution konnten sie jedoch nicht vom zeitlichen Vorsprung profitieren, zumindest nicht bei Welt- und Europameisterschaften. Zum einen, weil die Turniere erst ab 1930 bzw. 1960 ausgetragen wurden. Zum anderen, weil ihre Auswahlmannschaft anfangs nicht an den Wettkämpfen teilnahm.
Alle britischen Football Associations (FAs) waren 1928 aus der FIFA ausgetreten. Grund war der Hoheitsanspruch über alle fußballerischen Angelegenheiten, den die FIFA für sich verlangte. Die Briten wollten sich von einer internationalen Organisation nicht vorschreiben lassen, wie ihr Spiel gespielt wird. Oder in den Worten William Pickfords, damals Vizepräsident der englischen FA: „We have nothing against the FIFA, but our people here prefer to manage their own affairs their own way, and not be entangled in too many regulations.“ [1] Ersetzt man FIFA durch EU könnte der Satz glatt aus einer Rede von Brexit-Anhängern stammen.
18 Jahre später trat die englische FA der FIFA wieder bei. 1950 folgte in Brasilien der erste Auftritt bei einer Weltmeisterschaft. Andere Nationen hatten inzwischen viel von ihrem Rückstand aufgeholt, nur war das auf der Insel nicht angekommen. Der Gewinn des Titels wurde fast schon erwartet. Doch das englische Team scheiterte bereits in der Vorrunde, in der man gegen Spanien und die USA verlor. Dabei stellte letztere eine Mannschaft aus halb-professionellen Spielern, die vor der Abreise nur einmal gemeinsam trainieren konnten.
Die weitere Geschichte Englands bei großen Turnieren ist kaum erfolgreicher. Das Mutterland des Fußballs erreichte gerade einmal vier Halbfinals und nur bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land triumphierte sie, mithilfe zweier irregulärer Tore im Finale. Meist fehlt der Nerv an den eigenen Schwächen zu arbeiten. Oft werden die nicht mal wahrgenommen. Weil man dem eigenen Marketing auf dem Leim gegangen war, oder der eigenen Arroganz. Briten sind ja grundsätzlich besser als andere Völker. Historisch entpuppten sich englische Teams häufig als das Gegenteil einer Turniermannschaft.
Während die nationalen Eigenarten im Verbandsfußball den deutschen Auswahlteams mehr zum Vorteil gereichen als den Engländern, ist im Club-Fußball das Gegenteil der Fall. Dabei hätten deutsche Vereine in den letzten Jahrzehnten alleine schon aufgrund der wirtschaftlichen Kraft des Landes europäische Wettbewerbe dominieren müssen. Den Clubs steht grundsätzlich ein größeres finanzielles Potential zur Verfügung als ihren internationalen Konkurrenten.
Doch die Deutschen sind halt ein konservatives Volk. Das Hinterherhinken bei der Taktik macht sich hier mehr bemerkbar. Und auch bei der Professionalisierung gehören deutsche Klubs selten zur Avantgarde. So wurde eine nationale Liga in (West-)Deutschland erst 1963 eingeführt. In Italien, Spanien und Frankreich gab es bereits zu Beginn der 1930er Jahre nationale Spielklassen, in England gar seit 1888. Die Profi-Spieler sind in den meisten europäischen Ländern ebenfalls seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Einsatz. In Deutschland waren die Spieler noch in den ersten Bundesligajahren Amateure.
Heute kämpfen die deutschen Vereine darum, nicht den wirtschaftlichen Anschluss an die europäische Konkurrenz zu verlieren. Eine Feststellung die sowohl bei den Männern wie für den aufstrebenden Frauenfußball gilt.
Das Hinterherlaufen auf Club-Ebene macht sich bei der Trophäenausbeute bemerkbar. In den großen Europapokalen konnten Bundesliga-Teams 19 Titel erringen (Stand 2023), kein Vergleich zu Italien (29), England (33) und Spanien (40).
Im englischen Club-Fußball spiegelt sich die Entwicklung der britischen Gesellschaft eins zu eins wider. Seit den 1980er Jahren war man vor allem in den Bereichen Finanz und Vermarktung innovativ. 1992 wurde die English Premier League (EPL) gegründet. Die Clubs, welche mehr an der Erschließung neuer Geldquellen interessiert waren als die englische FA, verwalteten die Liga nun selbst.
Heute gilt die EPL als mit Abstand einnahmenstärkste (und beste!) Fußballliga der Welt. Um den Erfolg der Liga zu veranschaulichen, blicke ich zunächst auf die letzten Jahre vor der Covid-19-Pandemie. Nicht dass jemand behauptet die Liga hätte nur von den Verwerfungen der Corona-Jahre profitiert.
2018/19 nahm die Premier League ohne Transfererlöse 5,9 Mrd. Euro ein, weit abgeschlagen folgten La Liga (Spanien) und die Bundesliga mit 3,4 bzw. 3,3 Mrd. Euro [2]. Neun englische Clubs gehörten zu den 20 Umsatzstärksten der Welt, im Vergleich zu zweien aus Deutschland.
Die englische Liga profitierte u.a. von der höheren Bereitschaft im heimischen Markt für ihr „Produkt“ zu bezahlen. Von nationalen TV-Anstalten erhielten die EPL-Clubs ca. 1,8 Mrd. € (1,59 Mrd. GBP [3]), während Bundesliga-Clubs mit ca. 1,15 Mrd. € vorliebnehmen mussten. Wobei noch 20 Prozent an die zweite Liga abzutreten waren. Und wie ich aus eigener Erfahrung sagen kann, sind auch die Ticketpreise in den Stadien wesentlich höher.
Zudem ist keine andere Liga international so populär wie die Premier League. Als Resultat nimmt sie durch ausländische TV-Rechte-Verwertung mehr als jede andere Eliteklasse ein. Während die Bundesliga vor der Corona-Krise mit knapp 250 Mio. € rechnen konnte, verteilte die Premier League 2018/19 ca. 1 Milliarde Euro an ihre Clubs (863,7 Mio GBP [3]).
Zur Steigerung der Einnahmen hat die Liga die Spielansetzungen nicht nur stark zerstückelt. Rechteinhaber dürfen teilweise die Partien für einen bestimmten Timeslot auswählen. Dadurch werden attraktive Partien oft Samstagmittag um 12:30 angestoßen, rechtzeitig zur Primetime in Ostasien. Dass die Zeit für Briten eigentlich viel zu früh ist, oder die Verletzungsgefahr bei Spitzenteams erhöht, weil die Regenerationszeit der Spieler nach Europacup-Spielen reduziert wird, geschenkt.
Finanziell hat sich die English Premier League längst als beste Fußballliga der Welt etabliert. Nur in internationalen Wettbewerben stellte sich lange nicht der zu erwartende Erfolg ein. So konnten englische Teams in den ersten 20 Jahren des neuen Jahrtausends zwar mit acht Triumphen in Champions- bzw. Europa League glänzen, und belegen im Ländervergleich einen guten zweiten Platz, die Lücke zu Nummer eins ist jedoch riesig. Spanische Teams gewannen 19 Titel. Deutsche Mannschaften belegen mit 3 Titeln den dritten Platz, zusammen mit Teams aus Italien und Portugal.
Am Ende des betrachteten Zeitraums häuften sich die Titel jedoch. 2017 bis 2019 gewannen EPL-Teams drei Titel. Nur kann man kaum noch von englischen Clubs sprechen. Die EPL weist unter den Topligen den höchsten Spielanteil von Ausländern auf. Er betrug zur Saison 2018/19 71,0 Prozent [4]. In der Bundesliga waren es 56,6 [5]. Bei Trainern und den Eigentümern der Clubs sah es ähnlich aus. Zu Beginn der Saison 2019/20 waren 11 von 20 Übungsleitern Ausländer. Und nur acht Vereine waren mehrheitlich in heimischer Hand (Soweit ich herausfinden konnte, die Besitzverhältnisse sind nicht immer klar dargestellt). Der Rest wurde von nicht-britischen Einzelpersonen, Konglomeraten oder gar staatlich kontrollierten Organisationen gesteuert. Sie kamen aus den USA, Russland, China, Italien, Thailand oder aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Herrscherfamilie Abu Dhabis kontrolliert de facto Manchester City.
Fast komplett ohne britischen Beitrag kamen die Werbeplätze auf der Brust der Spieler aus. Nur eine Firma mit Sitz im Vereinigten Königreich war dort zur Saison 2019/20 vertreten (Standard Chartered beim FC Liverpool). Der Rest war teilweise so international, dass man die Firmen in Großbritannien gar nicht kannte. Bei den Trikots von Burnley, Southampton oder Crystal Palace prangten große chinesischen Schriftzeichen auf den Trikots. Die Firmennamen in winzigen lateinischen Lettern darunter übersah man schnell.
In der Spitze der Liga ist die Internationalisierung besonders weit fortgeschritten. Von den Big Six Clubs aus Manchester, Liverpool und London befand sich zur Saison 2019/20 nur einer in heimischer Hand (Tottenham), und nur ein Trainer war Engländer, welcher im Jahr darauf entlassen wurde (Chelsea). Überhaupt scheinen gute einheimische Übungsleiter Mangelware zu sein. Seit Gründung der EPL im Jahr 1992 konnte kein englischer Trainer die Meisterschaft gewinnen (Sir Alex Ferguson ist Schotte).
Als Ende der Saison 2018/19 alle Final-Teilnehmer der Champions- und Europa-League aus der EPL stammten, war nur ein Club in englischem Besitz. In den Startformationen stammten gerade mal 18 Prozent der Spieler aus England. Keiner der Trainer kam von der Insel. Und die Tore wurden von Spielern aus Belgien, Spanien, Frankreich, Nigeria und Ägypten erzielt.
Die Verwerfungen der Pandemie haben die jeweiligen Entwicklungen beschleunigt. Sportlich wie wirtschaftlich hat die Liga den Abstand zur Konkurrenz vergrößert. Gleichzeitig ist die EPL ist noch internationaler geworden. 2021-23 stellte die EPL etwa vier von sechs Champions-League-Finalisten und gewann drei europäische Titel (ohne Supercups). Die jährlichen Einnahmen aus der TV-Vermarktung konnten um über eine Milliarde gesteigert werden, wobei jene aus der internationalen Verwertung zum ersten Mal die aus dem heimischen Markt überschreiten [6]. Die Bundesliga nimmt in der aktuellen Verwertungsperiode dagegen weniger ein als vor Covid [7], und durch die Presse geistert, dass eine Steigerung in der nächsten Runde eher unwahrscheinlich ist.
Während die Zahl der Einsatzminuten ausländischer Spieler 2022/23 minimal um knapp 2 Prozent zurückgegangen war [8] und die Zahl britischer Sponsoren auf Brust der Spieler aktuell etwas höher ist als vor Covid (+2 [9]), ist die Anzahl ausländischer Trainer und Besitzer weiter gestiegen. Am Anfang der Saison 2023/24 gibt es nur noch sieben einheimische Trainer und nur sechs Clubs sind mehrheitlich in britischer Hand (wieder: soweit ich herausfinden konnte).
Trotz des geringen Anteils englischer Spieler, profitiert die heimische Auswahlmannschaft von den jüngsten Entwicklungen. Ausländisches know how auf allen Ebenen, bis hinein in die Jugend-Akademien, hat der der FA eine kleine Auswahl exzellent ausgebildeter Spieler beschert, die sich auch neben dem Platz professioneller verhalten als ihre Vorgänger. Diese Entwicklung hat zu einem historischen Höhenflug der englischen Nationalmannschaften geführt. Die Hälfte der Halbfinalteilnahmen wurden in den letzten 5 Jahren verzeichnet (2018 und 2021). Ein Titelgewinn in naher Zukunft ist nicht ausgeschlossen. (Das Frauenteam ist Europameister und jetzt Vize-Weltmeister. Der Erfolg kam, natürlich, mit einer ausländischen Trainerin.)
Das erfolgreiche Abschneiden der englischen Auswahlmannschaft ist positiver Nebeneffekt der Entwicklung der Premier League und diese ist wie beschreiben aktuell nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sportlich die erfolgreichste Fußballliga der Welt. Ich meinen bisherigen Posts gibt die britische Gesellschaft jedoch kein gutes Bild ab. Warum dieser Gegensatz, wo doch der Fußball die Gesellschaft abbilden soll? Vielleicht geht es dem englischen Fußball nicht so gut wie es scheint? Oder lag ich mit meinen Beobachtungen falsch? Vielleicht verändert sich der Fußball nur schneller und weist den Weg in die (goldene) Zukunft Großbritanniens? Damit werde ich mich im nächsten Beitrag auseinandersetzten.
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[1] Peter J. Beck: Scoring for Britain, F. Cass (1999)
[9] Die Zahl könnte noch steigen, da etwa Chelsea ohne Trikotsponsor in die Saison geht
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