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AutorenbildAndreas Eich

Seit der Finanzkrise geht es mit Großbritannien bergab

Aktualisiert: 6. Aug. 2023

Im Vergleich mit Deutschland stechen die wenig attraktiven Umstände auf der Insel besonders heraus. Doch den Ländervergleich braucht es nicht. Es reicht ein Blick in die eigene Vergangenheit, um den Briten aufzuzeigen, wie viel sorgenfreier das Leben sein kann. Die Frage ist, warum unternimmt niemand etwas gegen die Entwicklung? Warum rebellieren die Bürger nicht gegen ihre Politiker? Warum verändern die nicht die Ausrichtung des Landes? Und sei es, indem „nur“ mehr Geld in Infrastruktur, Wohnungsbau, Kitas oder Hochschulen gesteckt wird?



Letztere Frage lässt sich noch am einfachsten beantworten. Selbst wenn der politische Wille da wäre, es fehlt das Geld. Was wir in Deutschland inzwischen fast vergessen haben, die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 war die einschneidendste ihrer Art seit der großen Depression um 1930. In der folgenden Schuldenkrise standen Länder wie Griechenland, Spanien, Portugal, Italien oder Irland im Fokus, bei denen Zweifel bestanden, ob sie ihre Verbindlichkeiten bezahlen könnten.

Doch auch in anderen Staaten schossen diese enorm in die Höhe. Weil Einnahmen fehlten und mehr staatliche Unterstützung gezahlt werden musste, für Bürger, Firmen und Banken. In Deutschland stiegen die Schulden der öffentlichen Haushalte von knapp 1,6 Billionen Euro im Jahr 2007 auf etwa 2,2 Billionen Euro im Jahr 2012 an. Ein Plus von mehr als 35 Prozent in 5 Jahren.

Wie belastend Verbindlichkeiten sind, hängt bei Staaten ähnlich wie bei Privatleuten von ihrer Wirtschaftskraft ab. Daher macht es mehr Sinn auf die Schuldenquote eines Staats zu schauen als auf den absoluten Wert, die Verbindlichkeiten werden dabei in Prozent des Bruttoinlandsproduktes angegeben.

Die Schuldenlast Griechenlands von ca. 350 Mrd. Euro wären für Deutschland Peanuts, die entsprechende Quote von 180 Prozent dagegen ein schwerwiegendes Problem.

Die Schuldenquote ist eine brauchbare Kennzahl, um die finanzielle Belastung verschiedener Staaten und ihre zeitliche Entwicklung zu vergleichen[1]. Für den deutschen Staat stieg die Schuldenquote zwischen 2007 und 2012 von 64 Prozent auf fast 79 Prozent, ein Plus von 15 Punkten in 5 Jahren. Ganz schön viel, oder?

Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Mir fehlt die Erfahrung mit internationalen Finanzkrisen. Der prozentuale Anstieg hört sich nicht unbedingt beeindruckend an. Manchen Aktien in meinem Depot hatten in einem Jahr einen wesentlich größeren Wertzuwachs (oder Verlust). Und vor ein paar Jahren hatte sogar mein Festgeldkonto einen höheren Zinssatz. Für eine bessere Einordung sollte ich vielleicht nach einem anderen Beispiel suchen, einem auf staatlicher Ebene, mit einschneidenden Veränderungen für das Land. Wie wäre es mit der deutschen Wiedervereinigung?!

1990 war die DDR marode geworden, ihre Infrastruktur verfiel, die Wirtschaft schwächelte seit Jahren. Mit der Wiedervereinigung kam für die ostdeutsche Industrie der abrupte Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft, von einem abgeschotteten zu einem offenen System. Ein großer Teil der Industrie überlebte den Wechsel nicht.

Der Osten Deutschlands wurde nicht nur von einer einfachen Wirtschaftskrise getroffen, ganze Landstriche wurden innerhalb kurzer Zeit deindustrialisiert. Die Folgen spüren die betroffenen Regionen zum Teil bis heute, wirtschaftlich und sozial. Denn viele Ostdeutsche verloren ihren Job und manche fanden nie wieder Arbeit.

Der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft zog viele menschliche Tragödien nach sich. Doch auch den deutschen Staatsfinanzen versetzte er einen harten Schlag. Die Infrastruktur der ehemaligen DDR musste modernisiert, die Wirtschaft gefördert, die Bevölkerung versorgt werden. Alleine wären die neuen Bundesländer mit den Aufgaben hoffnungslos überfordert gewesen.

Der Bund und damit Westdeutschland sprangen ein. Dabei machten die neuen Länder fast ein Drittel der Fläche und etwa ein Fünftel der Bevölkerung des wiedervereinigten Deutschlands aus. Die Investitionen waren dementsprechend groß. Laut einer Studie des Ifo-Instituts wurden zwischen 1990 und 2014 ca. 2 Billionen Euro(!) an staatlichen Transferleistungen für die neuen Bundesländer aufgewandt. Die Wiedervereinigung war und ist eine Jahrhundertaufgabe.

Die Ausgaben wurden durch neue Steuern, Einsparungen, sowie über Schulden finanziert. Die Schuldenquote Deutschlands stieg zwischen 1990 und 1995 von 40 auf etwa 55 Prozent und bis 2007 auf 65 Prozent, ein Plus von 15 Punkten in 5 Jahren, bzw. von 25 in 17.

Jetzt haben wir eine Vergleichsgröße. Die Finanzkrise hatte also in den ersten Jahren den gleichen verheerenden Effekt auf die deutschen Staatsfinanzen wie die Maßnahmen nach der Wiedervereinigung.

In späteren Jahren weichen die Entwicklungen jedoch voneinander ab. Nach 1995 stieg die Verschuldung weiter an, auch der nachhaltig schwachen wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands geschuldet. Bis heute liegt dort das BIP pro Kopf bei etwa zwei Drittel des Wertes der alten Bundesländer.

Im Fall der Finanzkrise erholte sich Deutschland schnell. 2019 hatte die Wirtschaft ein Jahrzehnt des Wachstums hinter sich. Die Arbeitslosigkeit war auf einem historisch niedrigen Niveau. Seit 2013 nahmen die absoluten Schulden des Staats Jahr für Jahr ab. Beides hatte zur Folge, dass die Schuldenquote stark reduziert werden konnte. 2019 lag sie bei 58,9 Prozent und damit unter dem Wert vor der Krise. Eine langfristig negative Entwicklung gab es nicht.

Die finanzielle Lage des Landes war teils absurd gut. Der Staat erwirtschaftete mehr Überschüsse als er anstrebte. Unter anderem, weil die bereitgestellten Mittel für Modernisierungen der Infrastruktur gar nicht abgerufen werden konnten. Es fehlten oft die Kapazitäten, um sie einzusetzen.

In Großbritannien, um auf das eigentliche Thema dieses Beitrages zurückzukommen, waren die Folgen ganz andere. Im Vergleich zu Deutschland war die Staatschuldenquote vor der Finanzkrise gering. 2007 lag sie bei ca. 41 Prozent. Mit der Krise zog sie kräftig an und erreichte 2015 einen Wert von 86,9 Prozent, eine Steigerung um sagenhafte 45 Punkte! Oder um es reißerisch zu formulieren, die Staatsschuldenquote hatte sich mehr als verdoppelt!

Danach fiel sie leicht, auf 83,8 Prozent in 2019. Der Rückgang ist auf das Wirtschaftswachstum zurückzuführen, welche in den 10 Jahren vor Corona sogar 1 Prozent stärker wuchs als in der Bundesrepublik.

Die absoluten Schulden stiegen dagegen jedes Jahr weiter an und erreichten 2019 1,89 Billionen Pfund, fast eine Verdreifachung gegenüber 2007! Und dass, obwohl auch die britische Arbeitslosenquote auf einen historisch niedrigen Wert fiel.

Die Entwicklung der Schuldenquote wäre weniger schlimm gewesen, wenn die Verbindlichkeiten durch großangelegte Investitionsprogramme oder wenigstens durch Unterstützung der Bevölkerung entstanden wären. Diese Art von Schulden hätte die Folgen der Krise für die Bevölkerung erträglicher gemacht bzw. den Weg in eine bessere Zukunft geebnet.

Leider war das Gegenteil der Fall. Investitionen, Sozialprogramme und andere staatlichen Leistungen wurden stark eingeschränkt. Gleichzeitig wurde die Mehrwertsteuer von 17,5 auf 20 Prozent erhöht.

Allgemein reduzierte die Zentralregierung die bereitgestellten Mittel für Städte und Kreise um 60 Prozent. Das bedeutete effektiv geringere Budgets für Straßenbau, Bibliotheken, die Müllabfuhr, Nahverkehr oder die Förderung von Kinderbetreuung und öffentlichen Wohnungen. Um die Löcher in den Haushalten zumindest teilweise zu stopfen, wurden lokale Steuern und Gebühren angehoben. Auch die beschriebene benefit cap, welche die Höhe der insgesamt möglichen Sozialleistungen einschränkt, ist ein Kind dieser Zeit.

Andere Haushaltsposten wurden zeitweise eingefroren bzw. wuchsen langsamer als vor der Krise. Dazu gehörte das Budget des öffentlichen Gesundheitssystems. In den 2000ern stieg der Etat um über 6 Prozent im Jahr an (in realen Preisen), von 2010-2015 nur um jährlich 0,84 Prozent, danach ein paar zehntel Prozent mehr. Und dass, obwohl die Bevölkerung wuchs und im Schnitt älter wurde.

In mehrfacher Hinsicht betroffen waren und sind Kinder. Zum einen durch die prekäre Lage vieler Eltern. Die Zahl in Armut lebender Kinder stieg zwischen 2013 und 2018 um 500.000 auf 4,1 Mio. an.

Zum anderen, wegen der eingeschränkten Förderung ihrer Entwicklung und Bildungschancen. Sure Start Centres, welche in den ärmsten Gegenden kostenlose Kinderbetreuung, Play Sessions, Beratung der Eltern, medizinische Begleitung oder Betreuung bei psychologischen Problemen anbieten, mussten reihenweise ihre Pforten schließen. 2010 gab es ca. 3.600 Centres, 2018 fast 1.000 weniger.

Die Ausgaben im Bildungssektor wurden auf nationaler Ebene eingefroren. Die Budgets auf lokaler Ebene, aus denen Transport, Administration oder Unterricht für Schüler mit besonderen Bedürfnissen finanziert werden, gingen zurück. Laut dem Institute for Fiscal Studies schrumpfte das Bildungsbudget in England zwischen 2010 und 2018 um 8 Prozent, obwohl die Zahl der Schüler anstieg.

Für Universitäten wurde das Budget wie beschrieben um knapp 50 Prozent zusammengestrichen, zum Ausgleich die Gebührengrenze mehr als verdreifacht. Als Konsequenz hat sich in England die Verschuldung durch Studienkredite zwischen 2010 und 2021 verfünffacht, und stieg auf 160 Mrd. GBP, die durchschnittliche pro-Kopf-Verschuldung nach einem Abschluss lag 2021 bei 45.000 GBP.

Bei der gestiegenen Belastung für die Bevölkerung ist es nicht verwunderlich, dass einige Straftaten massiv zunahmen. So stieg die Zahl der registrierten Gewalttaten mit Messern zwischen 2013 und 2019 um knapp 80 Prozent.

In London ist die Gefahr allgegenwärtig. Vorfälle mit Hieb und Stichwaffen sind ein durchaus üblicher Grund, warum sich Freunde zu einem Treffen verspäten oder gar absagen müssen. Entweder der Bus musste anhalten, weil einer der Fahrgäste sein Messer zog, oder die Bekannten sitzen noch an ihrem Arbeitsplatz fest: Jemand ist in ihr Bürogebäude geflohen und draußen warten die Verfolger mit ihren Macheten, wer weiß wann die Polizei kommt, um die Situation aufzulösen. Und das kann dauern. Nach 2010 wurden auch 20.000 Stellen bei der Polizei eingespart.

In Deutschland hat die Finanzkrise enormen Schaden angerichtet, aber letztendlich verursachte sie nur eine Delle in der wirtschaftlichen Entwicklung. In Großbritannien habe ich eher das Gefühl, die Gesellschaft ist in einen Abwärtsstrudel geraten. Trotz Wirtschaftswachstum und niedriger Arbeitslosigkeit mussten sich Staat und Bevölkerung mehr und mehr einschränken.


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[1] Wobei es noch darauf ankommt bei wem der Staat Verbindlichkeiten hat. Inlandsschulden sind eher zu verschmerzen als solche bei ausländischen Gläubigern.

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