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AutorenbildAndreas Eich

Britische Ärzte werden zu Arbeitsbienen konditioniert

In zwei vorherigen Posts habe ich den desaströsen Zustand des englischen NHS aus finanzieller und administrativer, sowie aus Patientensicht beschrieben. Doch wie ergeht es den Mitarbeitern? Hier kann ich einen Einblick durch die Erfahrungen meiner Frau geben, die in Großbritannien Medizin studiert und sich später auf die Arbeit als general practitioner (GP, Allgemeinärztin/Hausärztin) spezialisiert hat.

Kurz gesagt, ihnen geht es kaum besser als den Patienten. Sie werden zerrieben bei der Aufgabe guter Heiler in einem unzulänglichen System zu sein. Dazu kommt die typisch britische Konzentration auf Geld und Kennzahlen, welche alle Beteiligten zu Zahnrädern im Rechenwerk der Obrigkeit macht.



Die ersten Einblicke erhielt ich, als ich meiner angehenden Ärztin bei der Vorbereitung auf ihre finalen Prüfungen half. Einer der Tests ist ein praktisches Examen, bei dem die Prüflinge mit Situationen aus dem GP-Alltag konfrontiert werden. Eine Gruppe Schauspieler stellt verschiedene Patienten-Typen dar. Etwa die ältere englische Lady, die zu viel aus ihrem Leben erzählt, aber mit Details über ihren gesundheitlichen Zustand spart, ein vierzig-jähriger Alkoholiker, oder eine junge, drogenabhängige Mutter. Es gibt Krebspatienten, Hypochonder und Selbstmordgefährdete. Manche „Patienten“ sind nett, andere abweisend, einige werden aggressiv.

Die Ärzte müssen professionell und freundlich bleiben, die richtige Diagnose treffen, eine passende Behandlung verschreiben und eventuellen tiefergehende Probleme nachgehen. Dies können die beschriebenen Alkoholprobleme oder andere Abhängigkeiten sein, aber auch vieles mehr. GPs sind für Briten nicht nur die ersten Ansprechpartner bei gesundheitlichen Problemen, sondern auch bei sozialen.

All dies müssen die angehenden GPs in der vorgeschriebenen Zeit von 10 Minuten je Patient bewältigen. Im Grunde finde ich ein bisschen Effizienz-Training nicht schlecht. Aber eine 10minütige Beschränkung ist in der Praxis wohl kaum realistisch. Immerhin sind Menschen keine Maschinen. Unsere Probleme sind nicht genormt.

Doch die britischen Verantwortlichen sehen das anders. Auch in der Praxis gibt es kaum eine Abweichung von der Regel. Ärzte und Patienten haben im Takt der Gesundheitsmaschine zu funktionieren.

So sind auch die Schichten von GPs genau strukturiert. Eine sogenannte Session beinhaltet etwa drei Stunden für Patientenkontakt, sowie 70 Minuten für administrative Aufgaben. Die genaue Struktur kann von Praxis zu Praxis leicht variieren.

Ein voller Tag besteht aus zwei Sessions zu je vier Stunden. Doch die GPs arbeiten nicht wirklich nach Zeit, sondern haben eine bestimmte Patientenzahl abzuarbeiten. Und für jeden stehen, sie ahnen es, 10 Minuten zur Verfügung. Dabei gilt, dass ein Patient pro Termin ein Problem behandeln lassen kann. Wer neben Halsschmerzen noch seine Magenprobleme besprechen möchte, benötigt einen weiteren Termin.

Längere Slots von 20 Minuten können, je nach Management, bei der Untersuchung von Säuglingen oder fremdsprachigen Patienten veranschlagt werden. Für letztere steht ein Übersetzungsdienst per Telefon zur Verfügung.

Die drei Stunden Patientenkontakt sind nicht komplett mit Terminen verplant, so bleibt etwas Pufferzeit, falls Verzögerungen auftreten. In unserem Umfeld sind 15-17 Termine pro Session die Regel. Doch selbst die resultierenden ca. 30 Minuten extra reichen in der Praxis kaum aus. Viele Patienten kennen weder die zeitlichen Vorgaben, noch die Beschränkung auf ein Problem, Kinder lassen sich erst recht nicht nach Vorschrift untersuchen, beim Übersetzungsdienst hängen die GPs regelmäßig in der Warteschleife fest, und die Rezeptionisten vergessen meist längere Slots zu buchen, wenn es geboten wäre.

Dann gibt es die schwer kranken Patienten. Jemanden, dem gerade sein Krebsleiden eröffnet wurde, kann man im Schockzustand kaum aus dem Behandlungszimmer weisen, nur weil seine Zeit abgelaufen ist. Das gleiche gilt für Selbstmordkandidaten.

Die Ärzte stehen vor einem Dilemma. Entweder sie setzen das Wohlergehen ihrer Patienten an erster Stelle und pfeifen auf die 10-Minuten-Vorgabe, dann bezahlen sie ihre Hingabe mit mehreren Überstunden am Tag. Oder die Ärzte funktionieren streng nach Vorgabe wie ein präzises Uhrwerk, egal welchen Schaden sie bei ihren „Kunden“ anrichten.

Die meisten Ärzte fühlen sich zum Glück ihren Patienten verpflichtet. (Wir kennen Ausnahmen) Entsprechend leiden sie unter der Überlastung. Als Konsequenz arbeitet kaum einer der GPs aus unserem Bekanntenkreis eine volle Woche, also 10 Sessions. Standard sind eher sechs bis acht. Dann verdienen sie zwar weniger, aber genug, um nicht am Hungertuch zu nagen. Pro Session gibt es im Jahr ca. £9.000-12.000. Doch den Patienten steht noch weniger ärztliche Betreuung zur Verfügung als ohnehin. (Wie beschrieben, gibt es in Großbritannien 30% weniger Ärzte pro Patient [1].)


Kurzer Einschub: Voll ausgebildete Ärzte verdienen zwar recht gut, besonders für britische Verhältnisse. Doch nach dem Universitätsabschluss sie für einen Approbation noch einmal mehre Jahre an Spezialisierungen nötig. Für GPs mindestens 5, für andere mehr. Das Anfangsgehalt meiner Frau als Junior Doctor betrug knapp £27.000 GBP im Jahr, weniger als das aktuelle mittlere Einkommen. Im Gegensatz zu den üblichen Lebenshaltungskosten sind die Gehälter angehender Ärzte seit ihrem Universitätsabschluss kaum gestiegen, dazu kommt eine Verdreifachung der Studiengebühren. Nicht zu vergessen die Kosten für verschiedene Prüfungen, die jeweils mehrere hundert bis über tausend Pfund betragen können. Will sagen viele junge Ärzte leben in prekären Verhältnissen. Nach der Approbation wird es besser, aber in den ersten Jahren heißt es Schulden zu bedienen. Kein Wunder, dass wir in 2023 mehrere Streiks der Junior Doctors gesehen haben, um ihre Bezahlung zu verbessern. Nimmt man die hier beschriebene Arbeitsbelastung hinzu, ist es ebenfalls nicht überraschend, dass 40% der Junior Doctors aktiv planen den NHS zu verlassen [2]. Für die Gesundheit der Briten, wäre es besser die Forderungen der jungen Ärzte zu erfüllen… Doch zurück zum Arbeitsalltag.


Die britischen GPs werden auf den Takt der Maschinerie gedrillt. Die Praxen unternehmen dagegen wenig, um sie bei der Einhaltung der zeitlichen Vorgaben zu unterstützen. Begleiten sie mich zur Veranschaulichung in den Warteraum einer GP-Praxis. Die Einrichtung versprüht zumeist 80er-Jahre-Ostblock-Charme. Heraus sticht einzig der große Monitor, auf den alle Stühle ausgerichtet sind. Über ihn werden Patienten ins Behandlungszimmer gerufen, dazu erscheint ihr Name und die Nummer des Raumes.

Allerdings nur für ein paar Sekunden. Dann wird der Aufruf durch drei bis vier Infoseiten ersetzt, in der Art von „Sie wollen mit dem Rauchen aufhören? Wir helfen!“ Oder: „Schmerzen in der Brust? Melden sie sich sofort beim Notruf!“ Mit anderen Worten, kaum einer schenkt dem Bildschirm Beachtung. Frau und Herr Doktor warten vergeblich. Nach einer Weile wird noch einmal der Monitor zum Aufruf bemüht. Dann lassen sie die Patienten per Rezeption ausrufen, oder die GPs bemühen sich selbst ins Wartezimmer.

Bis die Situation aufgelöst ist, vergehen in der Regel selbstgestoppte 90-120 Sekunden. Hört sich nicht nach viel an, aber von der eingeplanten Behandlungszeit werden so 15-20 Prozent verschwendet. Die angesprochene Pufferzeit ist damit aufgebraucht.

Es gibt eine einfache Lösung für das Problem: Parallel zum Patientenaufruf am Bildschirm könnte ein Signalton abgespielt werden. Unbekannt ist die Idee nicht. Während meiner Reise durch die verschiedenen Wartezimmer konnte ich das System einmal in Aktion erleben. Funktioniert großartig. Warum wird es nicht überall installiert? Beziehungsweise, in manchen Praxen ist es installiert, aber seit Ewigkeiten defekt. Warum wird es nicht repariert?

Eine Erklärung kann man in der Organisation und Finanzierung der Praxen finden. Der Profit bzw. das Gehalt der Betreiber ergibt sich aus der Differenz des zugestandenen Budgets und den anfallenden Kosten. Der Etat einer GP Praxis richtet sich nach der Zahl der registrierten Patienten, nicht nach Zahl und Art der Behandlungen. Ob die angestellten GPs für ihr Tagwerk acht, neun oder zehn Stunden benötigen, spielt keine wirkliche Rolle. Zwar sind viele der Betreiber selbst Ärzte, aber sie haben sich oft genug in die Verwaltung zurückgezogen. Und seit den Reformen der Nuller Jahre dürfen sich Praxen zu größeren Verbünden zusammenschließen. In denen hat die Verwaltung kaum bis gar keinen Patientenkontakt mehr.

Wie es die britische Mentalität gebietet, konzentrieren sie sich dort oft auf die Optimierung des Profits, anstatt Abläufe zu verbessern. Dass die angestellten Ärzte verheizt werden, zum Schaden der Patienten und des gesamten Systems, spielt eine untergeordnete keine Rolle.

Damit will ich es mit meinem Ausflug in das Gesundheitssystem beenden. Lasse ich meine Posts noch einmal Revue passieren, scheint es mir, dass die Briten entweder komplett dem Kapitalismus verfallen und alles auf das liebe Geld reduzieren, wie im 19. Jahrhundert und den letzten 40 Jahren, oder dem Sozialismus nacheifern, wie in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg.

Sozialismus und Kapitalismus weisen beide Stärken und Schwächen auf. Die eine Theorie mehr, die andere weniger. Das ist ganz natürlich, zumal sie menschengemacht sind. Bei einer klugen Umsetzung würden die Verantwortlichen versuchen die jeweiligen Nachteile einzudämmen, oder noch besser, die Stärken verschiedener Ideologien miteinander zu verbinden (soziale Marktwirtschaft anyone?!).

Nicht so in Großbritannien. Als in den letzten Jahrzehnten Neoliberalismus und Wohlfahrtsstaat parallel existierten, kam es an vielen Stellen zu einer Synergie der jeweiligen Schwächen. Das englische Gesundheitssystem ist das perfekte Beispiel. Heute ist der NHS immer noch bürokratisch und ineffizient, gleichzeitig steigern private Betreiber fröhlich ihre Profite. Der NHS wird so doppelt kaputt gewirtschaftet, das Geld der Bürger wird so doppelt verschwendet.

Warum kriegen es die Briten nicht besser hin? Liegt es alleine am allgemeinen Mangel an Kompetenz aufgrund des miserablen Bildungssystems? Oder haben die Entscheidungsträger mit weiteren Problemen zu kämpfen? Es wird Zeit das politische System in Großbritannien genauer anzusehen.



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