Wie zuvor beschreiben, ist das öffentliche Gesundheitssystem der Stolz Großbritanniens. Darüber hinaus ist es eine der letzten identitätsstiftenden Institutionen der britischen Gesellschaft. Der Stolz resultiert u.a. aus dem Verzicht auf ein öffentliches System mit Krankenversicherungen. Denn health insurances stehen stellvertretend für das amerikanische System: Ein Synonym für Profit-am-Patienten-erzielen und mangelnde Versorgung der ärmeren Bevölkerungsschichten. Kurz gesagt, für ein System, das rundweg abzulehnen ist.
So war es für mich anfangs unmöglich, meiner Frau verständlich zu machen, dass (praktisch) alle Bewohner Deutschlands zum Arzt gehen können, ohne einen finanziellen Ruin befürchten zu müssen. Erst nach langen Diskussionen und Vergleichen konnte ich sie davon überzeugen, das deutsche Versicherungssystem nicht mit dem amerikanischen gleichzusetzen. Und bei unseren Diskussionen lernten wir beide die Nachteile des britischen Systems kennen.
Eingang zu einer NHS Allgemeinarztpraxis in London
Ein entscheidender Mangel ist der geringere Schutz vor politischen Begehrlichkeiten. In Deutschland werden öffentliche Krankenkassen über eine spezielle Abgabe finanziert. Die Höhe ist gesetzlich geregelt. In Großbritannien gibt es keinen separaten Finanzierungsweg. Hier stammt das Budget des Gesundheitssystems zu einem Großteil aus allgemeinen Steuermitteln. (Und zu ca. 20 Prozent aus der National Insurance.)
Der öffentliche Haushalt ist dabei grob in zwei Bereiche aufgeteilt. Jener, der sich aus dem entsprechenden Bedarf definiert, darin sind Sozialleistungen oder Renten des öffentlichen Sektors enthalten. Und jener Teil der aktiver von den Ministerien gemanagt wird, wie etwa die Verteidigungs- oder Bildungsausgaben, oder eben die Kosten für das Gesundheitssystem.
Im Fiskaljahr 2018-19 wurden für den aktiv gemanagten Bereich 313 Mrd. GBP veranschlagt (ich bleibe bei meinen Zahlen wieder vor den Chaosjahren der Pandemie). Das mit Abstand größte Teilbudget war jenes für Gesundheit mit 123,3 Mrd. GBP (vornehmlich für England), gefolgt von Education mit 62,5 Mrd. GBP [1].
Will man die Ausgaben für den NHS steigern, müssen entweder die Steuern erhöht werden, ein Schritt, den Politiker kaum vorschlagen werden, wollen sie bei der nächsten Wahl erfolgreich sein. Oder man beschneidet die Haushalte der anderen Ressorts. Wobei die Einschnitte aufgrund des Volumens des NHS-Budgets übermäßig groß sein müssten, um überhaupt einen Effekt zu erzielen. (Dritte Möglichkeit, man erhöht Steuereinnahmen durch Wirtschaftswachstum, Stichwort Einwanderung).
Umgekehrt weckt der große Posten Begehrlichkeiten aus anderen Bereichen, besonders wenn ambitionierte Politiker neue Programme aufsetzen wollen. Ein paar Milliarden weniger im Gesundheitshaushalt fallen doch kaum auf, oder?
Als Resultat sind die staatlichen Aufwendungen für den NHS ständigen Angriffen ausgesetzt, ob von anderen Ressorts oder um den gesamten Haushalt kleinzuhalten. Der parteipolitische Einfluss kann sehr gut an der zeitlichen Entwicklung des Budgets abgelesen werden. Unter Labour wuchs der Etat in den 2000ern um über 6 Prozent im Jahr an (in realen Preisen) [2]. Dann übernahmen die Konservativen. Von 2010-2015 lag der jährliche Anstieg bei 0,84 Prozent, danach kamen ein paar zehntel Prozent obendrauf [3]. Trotz der Budget-Schwierigkeiten im Nachklang der Finanzkrise ist die Zurückhaltung beachtlich.
Doch halt, sind 123,3 Mrd. GBP nicht unheimlich viel Geld? Reicht das nicht?! Ich wage die Frage nicht zu beantworten, zumindest nicht direkt. Aber wir können mal schauen, wie sich die britischen Ausgaben im Vergleich zu den deutschen darstellen.
Leider ist eine Gegenüberstellung nicht einfach, die Systeme sind nicht nur sehr unterschiedlich, sondern kompliziert. Die erste Frage ist, wie viel Geld überhaupt in das britische System fließt. Denn die erwähnten 123,3 Mrd. GBP sind ja vornehmlich für England bestimmt.
Eine Zusammenfassung aller Ausgaben habe ich auf der Website des Office of National Statistics gefunden. Demnach beliefen sich im Jahr 2018 die Gesamtausgaben der öffentlichen Hand für den Gesundheitsbereich auf 166,7 Mrd. GBP [4]. Das entspricht knapp 2.510 GBP je Einwohner. Die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland beliefen sich im gleichen Jahr auf 222,1 Mrd. Euro, 2.670 Euro je Einwohner [5]. Kein großer Unterschied.
Aber der Vergleich hinkt. In Deutschland gibt es weitere gesetzliche Versicherungen, die Gesundheitsleistungen erbringen, etwa die Pflegeversicherung. Dort enthaltene Leistungen sind bereits im genannten Budget Großbritanniens enthalten. Allerdings auch nicht komplett. Denn manche Leistungen, die in Deutschland der Staat übernimmt, müssen im Vereinigten Königreich privat gezahlt werden.
Schauen wir daher auf die Gesamtausgaben beider Länder für Gesundheit, inklusive der Budgets aller gesetzlichen und privaten Versicherungen, sowie sonstiger Ausgaben. Dann ergibt sich für Großbritannien im Jahr 2018 ein Betrag von 214,4 Mrd. GBP, ca. 3.230 GBP pro Einwohner. Davon stammen 22 Prozent, 47,6 Mrd. GBP, aus nicht staatlicher Hand [6].
In Deutschland beläuft sich das Gesamtbudget auf 390,6 Mrd. Euro, etwa 4.710 Euro je Einwohner. Hiervon stammen 26 Prozent, 101,7 Mrd. Euro, aus privaten Kanälen [7]. (In beiden Ländern verfügen etwa 10 Prozent der Bevölkerung über eine private Versicherung [8][9].) Die Gesamtausgaben in der Bundesrepublik sind demnach sowohl absolut als auch pro Kopf signifikant höher. Und das jedes Jahr.
Doch damit nicht genug. Im Vereinigten Königreich sind private und öffentliche Infrastruktur viel stärker voneinander getrennt. In Deutschland werden Privatversicherte in Einzelzimmern untergebracht, eher vom Chefarzt behandelt oder erhalten schneller einen Termin. Aber grundsätzlich besuchen sie die gleichen Krankenhäuser und niedergelassenen Ärzte wie gesetzlich Versicherte. Die gemeinsame Infrastruktur wird mit Geldern beider Versicherungstypen finanziert. Auf der Insel gibt es viel mehr Einrichtungen exklusiv für Privatversicherte. Die NHS bekommen im Vergleich kaum Geld aus privater Hand.
Da ist es nicht verwunderlich, dass die britischen NHS schlechter ausgestattet sind als das deutsche System. Gemessen an der Einwohnerzahl gibt es in Großbritannien 30 Prozent weniger Ärzte, 40 Prozent weniger Pflegekräfte, fast 70 Prozent weniger Betten, über 75 Prozent weniger Computer-Tomographen, und fast 80 Prozent weniger Magnet-Resonanz-Tomographen [10].
Das öffentliche Gesundheitssystem hat nicht nur mit einem vergleichsweise kleinen Budget zu kämpfen, es gilt als ineffizient. Angesichts seiner Geschichte wenig überraschend. Als Folge wird seit Jahrzehnten am NHS herumgedoktert. Nachfolgend ein kurzer Blick auf das öffentliche System in England.
Anfangs gab es nur den NHS. Ganz dem planwirtschaftlichen Ideal des Wohlfahrtstaates folgend, waren Krankenhäuser und fast alle weiteren Einrichtungen Teil einer einzigen Organisation. Strategische Entscheidungen wurden in Westminster getroffen.
Doch die Entscheidungsträger hatten keine Ahnung von den Verhältnissen vor Ort. So stellte man zwar irgendwann fest, dass die Lebenserwartung in einigen englischen Regionen bedeutend geringer war als in anderen, bei gleichzeitig erhöhter Kindersterblichkeit, doch warum es zu den Abweichungen kam, wussten sie in der Zentrale nicht. Als Konsequenz wurde Verantwortung in die Regionen abgegeben.
Die Regierung Thatcher schaffte einen internen Markt, der bis heute besteht. Krankenhäuser und andere Einrichtungen agieren als eigenständige Dienstleister, die für erbrachte Service-Leistungen pauschal bezahlt werden, und mit den Einnahmen ihr Budget finanzieren. Innerhalb einer Region konkurrieren die ansässigen Krankenhäuser um bereitgestellte Mittel. Von diesem „Wettbewerb“ erhoffen sich die Verantwortlichen Kosteneinsparungen.
Im neuen Jahrtausend kam es gleich zu einer Reihe an Reformen. 2001 sah die Einführung von Primary Care Trusts (PCTs), eigenständige, regionale Dachorganisationen [11]. Ausgestattet mit Geldern des Department of Health, kauften sie Services von Krankenhäusern ein, sollten sich direkt um andere Leistungen kümmern, etwa in der Pflege, und Programme zur Steigerung der lokalen Gesundheit aufsetzen. Geleitet wurden die Trusts durch ein Board of Directors, welche sich zumindest teilweise aus lokalen Ärzten und Pflegekräften zusammensetzten.
Ihre Aufgabenliste sollte noch zunehmen. Die Zahl der PCTs nahm dagegen ab und sank innerhalb weniger Jahre von 303 auf 152 [11]. Die Trusts krankten an einigen Stellen, unter anderem am Gegensatz gleichzeitig Leistungen einkaufen und organisieren zu müssen.
Das geschaffene System sollte ab 2008 mit dem World Class Comissioning Programme verbessert werden. Es überlebte jedoch nur knapp zwei Jahre. Und 2013 wurden die PCTs durch Clinical Commissioning Groups (CCGs) sowie Public Health England (PHE) abgelöst. CCGs sind Zusammenschlüsse von Ärzten und Pflegekräften in einer Region, welche wie die PCTs weitere Träger mit Dienstleistungen beauftragen [11].
Public Health England war eine neue Organisation des Departments of Health and Social Care. Zusammengesetzt aus Experten unterstützte und überwachte sie das Gesundheitssystem auf nationaler Ebene und spielte eine zentrale Rolle bei größeren Unternehmungen, etwa der Seuchenbekämpfung.
Damit baute sich das Gesundheitssystem 2019 wie folgt auf: Das Department of Health and Social Care ist als Teil der Regierung verantwortlich für das staatliche Budget und gibt die Struktur und groben Abläufe vor. Dazu gehört Public Health England. NHS England ist eine eigenständige Organisation unter deren Oberaufsicht zahlreiche weitere Einheiten Gesundheitsleistungen erbringen. Clinical Commissioning Groups organisieren in der Region die Verteilung der Mittel. NHS Foundation Trusts, wie Krankenhäuser, konkurrieren um die Gelder der CCGs und leisten die eigentliche Arbeit.
Bei den ständigen Änderungen kann man leicht den Überblick verlieren, alle Angaben sind ohne Gewähr. Und natürlich existiert es so nicht mehr: Im August 2020 wurde im Zuge der Corona-Pandemie bekannt gegeben, dass Public Health England mit NHS Test and Trace im lnstitute for Health Protection aufgehen soll. In 2021 wurde die Reform vollzogen, wobei die neue Institution mit UK Health Security Agency einen anderen Namen erhielt als ursprünglich geplant. Außerdem wurden einige Aufgaben des PHE nicht übernommen. Teilweise gingen sie an weitere neue Einrichtungen, etwa dem Office for Health Protection, welches ebenfalls recht bald einen neuen Namen erhielt: Office for Health Improvement and Disparities. Und in 2022 wurde ein neuer Health and Care Act verabschiedet, welcher weitere grundlegende Reformen beinhaltete, etwa die Ablösung der CCGs durch Integrated Care Systems...
Versuche ich mit den Ärzten in unserem Freundeskreis über die Organisation des NHS zu reden, rollen sie nur mit den Augen. Von ihnen weiß keiner genau, welche Organisation gerade welche Verantwortung trägt. Im Grunde haben sie aufgegeben, das System zu verstehen. Wie sagte einer unserer Freunde so schön: Bevor er sich in das Thema einarbeitet, will erst seine Pensionsansprüche verstehen. Auch die ändern sich alle paar Jahre.
Die Aufspaltung des englischen Gesundheitssystems in eine Vielzahl quasi eigenständiger Organisationen ermöglichte gleichzeitig die Öffnung zum freien Markt. Inzwischen konkurrieren öffentliche und private Träger mit Profitinteresse, um die Gelder des NHS.
Die Öffnung muss kein Problem sein. Auch in Deutschland werden viele Krankenhäuser von privaten Unternehmen betrieben. Sie arbeiten tendenziell effizienter und wirtschaftlicher als ihre öffentlichen Pendants, da sie von Natur aus eher auf die Kosten achten. Und größere Betreiber sparen Gelder durch Synergieeffekte. Solange das wirtschaftliche Streben der Unternehmen nicht zum Schaden des Systems oder gar der Patienten führt, warum nicht. Liberalismus kann wunderbar sein, wenn Vernunft und Moral berücksichtigt werden.
Doch wir befinden uns in Großbritannien. Zu vielen Entscheidungsträgern fehlt die Kompetenz für ihren Job. Egal mit welchem System, die Wahrscheinlichkeit, dass es versagt, ist größer als anderswo. (Und neben dem lieben Geld verblassen andere Argumente nur allzu oft.)
Bei vielen Briten besteht die Furcht, dass die Privatisierung immer weiter fortschreitet, bis die Unternehmen flächendeckend vertreten sind. Wird dann die Gesundheitsversorgung unsicherer? Die Unternehmen werden sicher ganz genau darauf achten welche Leistungen mit welchen Pauschalen den größten Profit versprechen. Bleibt den öffentlichen Trägern einzig der unprofitable Rest? Müssen sie aufgeben? Oder wird die Politik erpressbar? Die privaten Träger könnten höhere Preise verlangen.
Steht gar die kostenlose Versorgung auf dem Spiel? Sind die Unternehmen flächendeckend vertreten, könnte der Staat anfangen, bestimmte Leistungen nicht mehr zu übernehmen. Sie wären dann aus eigener Tasche zu bezahlen, bzw. über eine private Krankenversicherung. Im ursprünglichen NHS, gänzlich öffentlich und voll integriert, wäre ein solcher Schritt unmöglich gewesen. Dem separaten privaten Markt hätten schlicht Kapazitäten und Infrastruktur gefehlt, um die gesamte Bevölkerung zu versorgen.
Praktisch jeder verantwortliche Politiker der letzten Jahrzehnte schwor, dass es unter seiner Ägide keine Privatisierung des englischen NHS geben würde. Und trotzdem hat jede Reform die Vorrausetzungen für private Übernahmen verbessert.
2019 wurden NHS-Dienstleistungen im Wert von 3,6 Mrd. GBP von privaten Trägern eingekauft. Ein vergleichsweise kleiner Betrag gemessen am Gesamtbudget. Noch. Denn die Summe entspricht einer Steigerung von 89 Prozent gegenüber 2015 [12].
Das staatliche Gesundheitssystem, der größte Stolz der Briten, wird mehr und mehr ausgehöhlt. (Zumindest in England. In Schottland besteht der nationale NHS immer noch aus einer einzigen Organisation.)
Kein Wunder, dass bei der Anti-Trump-Demonstration 2019 auch Transparente gegen den Brexit und für den NHS hochgehalten wurden. Viele befürchten, die Amerikaner werden im Rahmen eines Handelsvertrages auf einer weiteren Öffnung des heimischen Gesundheitssystems bestehen, nach amerikanischem Vorbild.
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