Bald nach meiner Ankunft beschäftigte ich mich mit einer möglichen neuen Karriere in Großbritannien. Wie viele meiner Doktoranden-Kollegen suchte ich eine Anstellung in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines Unternehmens. Da ich nichts dem Zufall überlassen wollte, verteilte ich meinen Lebenslauf an mehrere Headhunter-Agenturen, mit Erfolg. Schon bald bekam ich die ersten Bewerbungsgespräche vermittelt.
Doch die Gespräche waren ernüchternd. Besonders wenn es um Gehälter ging, wurden meine Erwartungen enttäuscht. Als promovierter Physiker hätte ich zu jener Zeit in Deutschland in einer entsprechenden Position 60.000 vielleicht sogar 70.000 Euro Jahresgehalt erhalten können. Hier wurden mir maximal 35.000 Pfund angeboten, mit der Aussicht in 15 Jahre vielleicht 50.000 verdienen zu können. Und das waren die Londoner Gehälter. Außerhalb der Metropole waren sie einige tausend Pfund niedriger.
Ich besprach meine Erwartungen mit einem der Headhunter. Der war überrascht. Die angebotenen Gehälter seien absoluter Standard. Wie konnte ich nur so merkwürdige Vorstellungen haben? Derartige Einkommen seien fast nur in der Finanzbrache möglich. In die habe er keine Kontakte.
Da ich ihm nicht blind glauben wollte, stellte ich meine eigenen Recherchen an, ohne große Wendungen. Das mittlere Gehalt von Vollzeitbeschäftigten ist in Großbritannien knapp 25 Prozent niedriger als in Deutschland. Außerdem sind Ingenieure und ähnliche Berufsgruppen im Vereinigten Königreich weniger angesehen als in meiner Heimat, daher vergrößert sich hier der Unterschied auf die beschrieben 40-50 Prozent.
Das war höchst enttäuschend. Und ich wollte den Unterschied immer noch nicht wahrhaben. Die angegebenen Summen waren Bruttogehälter. Vielleicht blieb netto viel mehr übrig als in Deutschland? Und vielleicht war die Kaufkraft des Pfunds stärker als der des Euro?
Beides stimmte, zumindest halbwegs. So ist die Abgabelast aus Steuern und Sozialabgaben für mittlere Gehälter ein paar tausend Euro im Jahr geringer. Und laut Wechselkurs war Pfund zur Zeit meiner Recherche knapp 15 Prozent mehr wert als der Euro.
Doch was man für sein Geld bekommt, bzw. was man vom Staat für seine Steuern erhält ist geradezu lächerlich (zu letzterem später mehr).
Mit der schlimmste Posten ist gleich der grundlegendste: die Ausgaben für die Unterkunft.
Für unsere Wohnung, etwas über 40 Quadratmeter in einem Sozialbau aus den 1960ern, zahlten wir knapp 1.400 Pfund im Monat, kalt versteht sich. Dazu kam, neben den Kosten für Heizung, Strom und Internet, die council tax, eine Abgabe an den Bezirk, in unserem Fall über 100 Pfund.
Nun werden sie einwenden, wir lebten ja in London, und dort sind die Mieten natürlich hoch. Recht haben sie, zumal wir in Islington wohnten, einem der (etwas) besseren Stadteile der Metropole.
Allerdings sind auch hier die Menschen nicht auf Rosen gebettet. 2018 betrug das mittlere Haushalteinkommen im Viertel knapp 33.700 GBP. Dieses beinhaltet nicht nur die Gehälter aller im Haushalt Lebenden, sondern auch deren Einnahmen aus Kapitalerträgen, Renten und Sozialleistungen. Da von den meisten Posten noch Steuern abgezogen werden, bleibt nach Abzug der Miete nicht mehr viel zum Leben.
Ein Treiber der Mieten ist natürlich die Nachfrage, in London zu wohnen ist halt attraktiv, besonders im Vergleich zum Rest des Landes (dazu eventuell später mehr). Doch vor allem folgenden die Mieten den Immobilienkosten. Die haben sich in London in den letzten 25 Jahren vervierfacht, inflationsbereinigt wohlgemehrt.
In England verlief die Kurve weniger steil, aber die Immobilienpreise stiegen zwischen 1970 und 2019 immer noch um das 4,8-fache. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum wuchsen die Preise in Deutschland nur um einen Faktor von 1,2.
Zwar stiegen in Großbritannien bis zum Ende des 20. Jahrhunderts auch die realen Gehälter an (d.h. wieder inflationsbereinigt), doch seit 2000 veränderten sie sich kaum. In den letzten Jahren sanken sie sogar unter den Wert von der Jahrtausendwende.
Kurz gesagt, in Großbritannien sind die Einkommen niedrig, die Lebenshaltungskosten hoch, und die Schere geht immer weiter auseinander. Kein Wunder, dass viele Briten meinen ihnen gehe es schlechter als vor 20 Jahren. Kein Wunder, dass sie unzufrieden sind.
(In späteren Beiträgen werde auf weitere Lebenshaltungskosten eingehen, die eine ähnliche Verteuerung durchlaufen haben: Etwa die Kosten für Kinderbetreuung, Schul- und Universitätsgebühren.)
Anmerkung: Wer über neue Beiträge per e-Mail informiert werden möchte, kann sich dazu oben rechts auf der Seite anmelden.
Comments