Ohne das Wechselspiel aus liberalen und imperialen Strömungen wäre es nicht zur Ausdehnung des britischen Empire gekommen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass im weiteren Verlauf genau dieses Wechselspiel die Grundlagen der Herrschaft über fremde Völker untergrub.
Im Namen liberaler Ideen haben Briten zwar viel Leid verursacht, siehe beispielhaft meinen Post über Tee und Salz, doch es gab auch Liberale, die ernsthaft den Beherrschten helfen wollten. Schauen wir wieder auf Indien. In den Jahrzehnten nach dem Aufstand von 1857 brachten sie allerlei Reformen auf den Weg. Indern wurde es erlaubt im Indian Civil Service zu arbeiten, es wurden für sie politische Posten zugänglich und liberale Briten halfen 1885 den Indian National Congress (INC) zu gründen, die spätere Kongresspartei. Letzterer sollte zur Bildung einer öffentlichen indischen Meinung dienen. Unter den Einheimischen wuchs so die Hoffnung auf Mitbestimmung. Einerseits.
Doch unter dem Einfluss der Imperialisten wurden der Partizipation immer wieder Steine in den Weg gelegt. Der Mitarbeit im Civil Service war zwischenzeitlich mit schier unüberwindbaren Hürden verbunden, Prüfungen mussten etwa in Großbritannien abgelegt werden, kleinste Fehler führten zur Entlassung. Und in der Politik waren die Posten nur mit einer beratenden Funktion verknüpft. Die britischen Entscheidungsträger konnten sie ignorieren wie sie wollten.
Die Entwicklungen rund um den 1. Weltkrieg sind ein gutes Beispiel für das hin und her. Während des Krieges kämpften die Briten ganz offiziell für die Freiheit und Selbstbestimmung der Völker. Seite an Seite mit Indern wohlgemerkt. Soldaten vom Subkontinent waren auf den europäischen Schlachtfeldern im Einsatz. Nach dem Krieg kam es zu politischen Reformen in der Kolonie.
In Provinzen und auf nationaler Ebene wurden Parlamente installiert. Doch nicht alle Abgeordneten wurden gewählt, viele wurden ernannt. Und die Sitze waren unter den Ethnien bzw. den Religionen nach einem vorgegebenen Schlüssel aufgeteilt. So installierten die Briten einerseits loyale Abgeordnete, andererseits sorgten sie für Zwietracht unter den gewählten Parlamentariern, denn der Schlüssel entsprach nicht den Mehrheitsverhältnissen in der Bevölkerung. Von der ohnehin nur ein kleiner Prozentsatz wählen durfte.
In der Exekutiven wurden nicht alle Ressorts den einheimischen Strukturen anvertraut. So unterstanden neben der Außenpolitik etwa das Justiz- und Polizeiwesen, das Militär, und das im trockenen Indien wichtige Bewässerungswesen weiterhin dem Vize-König und seiner Verwaltung.
Außerdem hatte der Vize-König das Recht, die Parlamentskammern einzuberufen, aufzulösen oder ihre Legislaturperiode beliebig zu verlängern, die Briten kontrollierten das Budget. Und das britische Parlament in Westminster blieb die höchste legislative Gewalt der Kronkolonie.
Letztendlich wurde die Hoffnung auf Selbstbestimmung mehr enttäuscht als erfüllt. Zumal die Briten mit dem Rowlatt-Act manche Freiheiten an anderer Stelle beschnitten. Während des Krieges waren die Grundrechte der Bürger zur einfacheren Verfolgung von Verschwörern eingeschränkt worden. Jede verdächtige Person durfte ohne Gerichtsbeschluss verhaftet, auf unbestimmte Zeit festgesetzt, ihr Besitz beschlagnahmt werden. Mit dem neuen Gesetz wurden die Maßnahmen auf unbestimmte Zeit verlängert.
Ein politisches Pulverfass entstand, das jederzeit explodieren konnte. Am 13. April 1919 war es so weit. In Amritsar versammelten sich bis zu 20.000 Menschen in einem lokalen Park. Zu einem großen Teil waren es Demonstranten, die einem Aufruf des INC gefolgt waren, um gegen die Verhaftung zweier führender Köpfe ihrer Organisation zu protestieren. Dazu bewegten sich Teilnehmer eines religiösen Festes durch das Areal, sowie Passanten.
Den Aufrührern musste Einhalt geboten werden. General Dyer, Oberbefehlshaber der lokalen Truppen, ließ die Eingänge des Parks blockieren und ohne Vorwarnung in die Menge schießen. Nach offiziellen Angaben kamen mindestens 379 Menschen ums Leben, über 1.000 wurden verletzt.
Die Unruhen wurden von einer parlamentarischen Kommission in London untersucht, die Vorfälle verurteilt. Auf eine Bestrafung von General Dyer konnte man sich aber nicht einigen. Einigen Briten galt Dyer als Held, der den Beginn einer möglichen Revolution niedergeschlagen und die Herrschaft Britanniens in Indien gesichert hatte. Ihm wurde „erlaubt“, den militärischen Dienst zu verlassen.
Für viele Inder stellte das Massaker einen Wendepunkt dar. Hatten zuvor viele Aktivisten mehr Selbstbestimmung in Kooperation mit den Kolonialherren angestrebt, setzten sich nun jene durch, die sich für eine Unabhängigkeit des Landes aussprachen. An die Spitze des INC gelangte ein Mann, der bereits in Südafrika erfolgreich für die Rechte der indischen Minderheit gekämpft hatte, Mohandas Gandhi.
Schockiert über die Vorkommnisse im Jahre 1919 erklärte er die Kooperation mit den Briten zur Sünde. Alle Inder waren dazu aufgerufen aus dem öffentlichen Dienst auszuscheiden, aus britischen Mitteln geförderte Schulen und Universitäten zu verlassen und Fabriken zu schließen. Ausländische Waren, besonders britische Textilien, sollten boykottiert werden. (Die britische Textilindustrie hatte die heimische zerstört.)
Gandhi setzte auf eine Strategie des gewaltlosen Widerstandes. Durch friedliche Aktionen und dem Ertragen der folgenden Bestrafung, wollte er seine Gegner moralisch bloßstellen. Gleichzeitig würden sich viele Bürger über die folgende Bestrafung empören und sich seinem Widerstand anschließen. Den Kolonialherren würde mehr und mehr die Macht entgleiten. Ob aufgrund des friedlichen Widerstandes oder der Bloßstellung, die Gegenseite würde einlenken müssen.
Doch gemessen an der ambitionierten Zielsetzung einer allumfassenden Selbstbestimmung scheiterte Gandhi. Nachdem es wiederholt zu gewaltsamen Übergriffen gekommen war, brach er seine Aktion ab. Zumindest wurde der Rowlatt-Act aufgehoben.
1930 startete Gandhi eine zweite Kampagne. Diesmal stand das britische Salz-Monopol im Zentrum seiner Strategie, ein wohlbedachter Schritt. Das staatliche Monopol war moralisch verwerflich, alle Inder waren von ihm betroffen, jeder konnte mit einfachen Mitteln am Protest teilnehmen, und der Rückgang der Steuereinnahmen würde die Briten hart treffen.
Den Beginn markierte ein 24-tägiger Marsch Gandhis an die Küste bei Dandi. Anfangs begleitet von 79 Anhängern, betrug die Länge der Kolonne bald mehrere Kilometer. Am Wegesrand jubelten ihm oft zehntausende Menschen zu. Während des Marsches hielt Gandhi Reden und gab Interviews. Die internationale Presse begleitete den Marsch. The New York Times veröffentlichte mehrere Artikel und Time wählte Gandhi später zum Mann des Jahres.
Am 5. April erreicht der Tross die Küste. Einen Tag später hielt Gandhi einen Klumpen Salzschlamm in die Höhe und sagte „With this, I am shaking the foundations of the British Empire“. Dann extrahierte er das Salz durch Sieden in Meerwasser. Millionen taten es ihm gleich.
Knapp einen Monat später wurde Gandhi verhaftet. Der Widerstand endete jedoch nicht. Neben weiteren Akten des zivilen Ungehorsams, etwa dem Boykott britischer Waren, kam es wieder zu Gewaltausbrüchen. Anders als in den 1920ern rief Gandhi nicht zum Abbruch der Proteste auf.
Der Widerstand zog sich bis ins Jahr 1934 und kann als Erfolg angesehen werden, auch wenn er zunächst keinen großen Wandel nach sich zog. Selbst die Salzsteuer blieb bestehen. Allerdings veränderte sich sowohl der Blick der Briten als auch der Inder auf die Lage im Land. Anders als zu Zeiten des Aufstandes von 1857, hatten die Inder eigene Organisationen mit fähigen Köpfen an der Spitze. Mit ihrem Widerstand konnten sie die Kolonialherren unter Druck setzen, wirtschaftlich und moralisch. Gegen den Willen der Einheimischen würde der Subkontinent kaum noch zu beherrschen sein.
Doch die Briten zierten sich noch, die Kontrolle abzugeben. 1935 folgte zwar eine weitere Verfassungsreform mit mehr Kompetenzen für lokale Institutionen, zur Erschütterung der Ordnung war aber wieder ein Krieg nötig.
Im zweiten Weltkrieg kämpfte Großbritannien an der Seite seiner Alliierten erneut für Demokratie und Freiheit. In der Atlantik Charta wurde das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung festgeschrieben. Und das Bewusstsein um die Situation Indiens war überall auf der Welt gestiegen. (Fun fact: Für Indien hatte der Vize-König den Kriegseintritt erklärt, ohne Absprache mit einheimischen Politikern.)
Gleichzeitig verlor Großbritannien den Status als Schutzmacht seiner Einflusssphäre. Eine nicht zu unterschätzende Legimitationsquelle britischen Führungsanspruches. Hongkong, Burma und Singapur wurden vom japanischen Kaiserreich erobert. Bombenangriffe auf indische Städte wie Kolkata (Kalkutta) folgten, ebenso vereinzelte Vorstöße zu Land.
Besonders der Verlust Singapurs, zentraler Flottenstützpunkt in der Region, wurde zu einem Symbol verlorengegangener Unbesiegbarkeit. Australien wäre bei einem möglichen Invasionsversuch Japans nahezu schutzlos gewesen. Das britische Dominion musste die USA um Unterstützung bitten.
Indien beteiligte sich an den Auseinandersetzungen mit der größten Freiwilligenarmee der Geschichte. Im August 1945 betrug die Stärke 2,5 Mio. Mann. Indische Einheiten kämpften in Afrika und Europa gegen Nazi-Deutschland, vor allem jedoch in Südost-Asien gegen Japan. Die Rückeroberungen von Burma, Malaysia und Singapur wären ohne indische Truppen kaum möglich gewesen.
Und dann war es so weit. Anfang 1946 veröffentlichte die britische Regierung ihre Absicht, Indien im folgenden Jahr in die Unabhängigkeit zu entlassen. Für die kurze Frist gab es allerlei Gründe. Die frisch gewählte Regierung wurde von Labour gestellt. Die Sozialisten hingen weit weniger am Empire als andere Parteien [1]. Und Großbritannien war vom Krieg ausgelaugt. Daheim war genug zu tun. Für Auseinandersetzungen in den Kolonien hatte die Regierung weder Mittel noch Zeit.
Zumal die Macht auf dem Subkontinent nur noch formal in britischen Händen lag. Sowohl in der Politik als auch im Indian Civil Service waren inzwischen die meisten Posten von Einheimischen besetzt. Lord Wavell, Ende 1946 britischer Vize-König, stellte fest „While the British are still legally and morally responsible for what happens in India, we have lost nearly all power to control events; we are simply running on the momentum of our previous prestige.“ [2] Man war zwar legal und moralisch für alle Vorkommnisse in Indien verantwortlich, aber hatte fast jegliche Kontrolle über diese verloren.
Würde der INC die Unabhängigkeit Indiens ausrufen, den Briten bliebe nichts anderes übrig als klein beizugeben. Besser für das Ansehen Großbritanniens war es, die Kolonie freiwillig zu entlassen. Sowohl moralisch wie auch um den angeknacksten Status als Großmacht nicht weiter in Frage zu stellen. Und erfüllte man mit dem selbstbestimmten Übergang nicht ein altes Leitbild? Das Vereinigte Königreich war nicht als Besatzer ins Land gekommen, sondern um die Kolonie und die Zivilisation zu entwickeln.
Doch mit dem Bestreben, den Eindruck eines Kontrollverlusts zu vermeiden, machten sich die Briten zu Getriebenen der Ereignisse. Indien ist nicht gleich Indien. Der Subkontinent ist Heimat verschiedener Kulturen und Religionen, die oft unterschiedliche Interessen verfolgen oder sich gar bekämpfen. Der INC sah sich als Vertretung aller Inder, doch hatte er den Status spätestens mit der Gründung der All India Muslim League im Jahr 1906 verloren.
Die Briten hatten die verschiedenen Fraktionen oft gegeneinander ausgespielt, um ihre Macht abzusichern. Entsprechend gespalten waren die beiden großen Lager, wenn es um die zukünftige politische Organisation ging.
Der INC strebte einen zentralen Staatsaufbau an. Die Muslime wollten einen eigenen Staat. Die Briten hofften den unterschiedlichen Ethnien und Religionen mit einer föderalen Struktur Rechnung tragen zu können. Mit der Einstaatenlösung schielten sie außerdem auf eine starke indische Armee als Verbündeten in zukünftigen Konflikten.
1946 kam es von muslimischer Seite zu Streiks und Demonstrationen. Es folgten Ausschreitungen. Muslime jagten Hindus, an anderen Orten jagten Hindus Muslime. Mehrere tausend Menschen wurden ermordet. Um die Lage nicht weiter zu eskalieren, stimmten Großbritannien und INC einer Zwei-Staaten-Lösung zu. Die Briten beauftragten einen Anwalt (!), innerhalb von 40 Tagen eine Lösung für die Grenzziehung vorzulegen. Bloß raus aus der Verantwortung!
Im August 1947 wurden Indien und Pakistan, mit dem heutigen Bangladesch, zu unabhängigen Nationen erklärt. Die beschlossenen Grenzen stellten sich bald als wenig optimal heraus. Es folgten weitere Unruhen. Millionen Menschen, Hindus wie Muslime, wurden aus ihrer Heimat vertrieben oder verloren ihr Leben. Prominentestes Opfer war Gandhi. Er trat für eine Aussöhnung der Bevölkerungsgruppen ein und wurde Anfang 1948 von einem fanatischen Hindu erschossen.
Der überhastete Unabhängigkeitsprozess hatte auch langfristige Konsequenzen. Zwischen den beiden Teilen Pakistans gab es Spannungen. 1971 erkämpfte sich Ostpakistan in einem blutigen Krieg die Unabhängigkeit. Und um die Region Kaschmir führten Indien und Pakistan mehrere Kriege. Der Konflikt schwelt bis heute.
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[1] Der konservative Premierminister Churchill hatte schon im Krieg den Status eines Dominions angeboten, allerdings erst für die Zeit nach Beendigung der Kampfhandlungen und geknüpft an Bedingungen. Auf das Versprechen ließ sich der INC nicht ein.
[2] J. M. Brown & Wm. R. Luis, Oxford Hiostory of then British Empire IV India, Oxfprd University Press (2001)
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