Meinen Ausflug in die britische Geschichte möchte ich mit folgender Beobachtung anfangen: Vor dem 19. Jahrhundert hätte Großbritannien seinen Einfluss auf den Kontinent nicht so leichtfertig aufgegeben wie in der Gegenwart. Über Jahrhunderte folgte in Europa ein Krieg dem Nächsten, gerne unter Beteiligung mehrerer Staaten. Die Herrscher wollten Macht und Ruhm mehren. Und wenn das nicht klappte, wollten sie zumindest sicherstellen, dass es anderen ähnlich erging.
Unser Inselreich am Rande des Kontinents mischte kräftig mit. Eine Expansion Richtung Festland war zwar nicht vorgesehen, aber eine Invasion von dort sollte ebenfalls vermieden werden. Dummerweise befand sich gleich auf der anderen Seite des Kanals das größte und bevölkerungsreichste Land Westeuropas, Frankreich. Die britische Strategie bestand meist darin, jene kontinentalen Kräfte zu unterstützen, die den Nachbarn auf dem Kontinent beschäftigten und im Zaun hielten.
Angesichts ihrer Strategie waren die Jahre um 1800 für die Briten ein geopolitischer Albtraum. Während Napoleons Herrschaft fiel ein Großteil Europas unter Frankreichs Kontrolle. Eine Invasion der Insel verhinderten wohl nur der Ärmelkanal, die starke britische Flotte, sowie später Napoleons Pläne, Frankreichs Einflusssphäre weiter im Osten zu vergrößern.
Weil Napoleon Großbritannien nicht militärisch unterjochen konnte, versuchte er das Land per Wirtschaftsembargo in die Knie zu zwingen. Wo es ging wurde britischen Waren und Kaufleuten der Zugang zum Kontinent verwehrt. Im Gegenzug schnitten die Briten Frankreichs Verbindungen zu dessen überseeischen Besitzungen ab, oder übernahmen gleich ganz.
Nach wenigen Jahren hatte sich Napoleons Reich erledigt. Seine Armeen wurden in Russland aufgerieben, die eroberten Staaten Zentraleuropas rebellierten. Eine neue Allianz besiegte den selbstgekrönten Kaiser.
Auf dem Wiener Kongress von 1814/15 wurde der Kontinent neu geordnet. Ganz im Sinne der Briten wurden die Staaten so zugeschnitten, dass keiner zu stark war. Auseinandersetzungen zwischen Großmächten wurden zusätzlich durch die Schaffung von Pufferstaaten erschwert.
Im Kräftegleichgewicht der nächsten Jahrzehnte konnte sich das Vereinigte Königreich nahezu komplett von der europäischen Bühne zurückziehen. 100 Jahre war man in (fast) keine kriegerischen Konflikte auf dem Kontinent verwickelt. Großbritanniens Blick richtete sich auf die restliche Welt, und die Briten bauten ihr Empire zum größten und dominantesten Reich der Menschheitsgeschichte aus. Die Ironie dabei: Der Ausbau war teils nicht gewollt. Denn der Liberalismus war einer der einflussreichsten Strömungen innerhalb der britischen Gesellschaft geworden, politisch wie wirtschaftlich.
Bezogen auf Außenhandel und Umgang mit den Kolonien verwiesen seine Anhänger auf die USA. Vor der Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien war deren Handel reglementiert. Der direkte Austausch mit anderen Staaten war den Kolonien verboten. Zuerst mussten sie ihre Waren ins Mutterland liefern, natürlich auf englischen Schiffen bei entsprechenden Zollabgaben. Erst dann durften die Güter in andere Länder verkauft werden.
Man folgte den Prinzipien des Merkantilismus. Die inländische Produktion sollte gefördert, ausländische Waren nach Möglichkeit aus dem Markt gedrängt werden. Alles unter strenger Kontrolle des Staates, für den die Zölle nicht nur zur Steuerung der Wirtschaft gut waren, sondern auch eine verlässliche Einnahmequelle darstellten.
Mit der Erlangung der Unabhängigkeit konnten die Amerikaner ihre Waren direkt an jeden verkaufen. Doch die Einnahmen aus dem Handel mit den USA gingen für die Briten nicht zurück, im Gegenteil. Gleichzeitig fiel der Aufwand weg, der mit dem Besitz von Kolonien einherging, etwa das Betreiben eines Verwaltungsapparates und die Niederschlagung von Aufständen, von der Finanzierung ganz zu schweigen.
Für das liberale Lager war die Lage klar: Kolonien waren lästig, teuer und schränkten den Handel ein. Eine Steigerung des britischen Wohlstandes sollte durch eine Expansion des freien Handels mit anderen Teilen der Welt erfolgen. Die sollten nicht beherrscht werden, sondern waren selbst frei und unabhängig.
Trotzdem gerieten in der Folgezeit viele Weltregionen unter direkte Kontrolle der britischen Obrigkeit und verblieben dort bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Warum? Ein entscheidender Faktor war die industrielle Revolution, welche zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Vereinigten Königreich im vollen Gange war. Großbritannien konnte eine enorme Menge an Waren produzieren und seine Händler suchten in der Welt nach Abnehmern und Ressourcen für deren Herstellung. Vor Ort waren ihre Produkte oft günstiger und besser als die lokalen Betriebe. Internationaler Freihandel bedeutete daher vor allem neue Absatzmöglichkeiten für britische Waren. Anderen Staaten drohte dagegen der Niedergang heimischer Wirtschaftszweige, und Abhängigkeit.
Außerdem war der Liberalismus eine wichtige aber nicht die einzige Strömung innerhalb der britischen Gesellschaft. Besonders in konservativen Kreisen gab es Befürworter einer Erweiterung des Empire.
Alleine hätten sie ihre Pläne nie vorantreiben können. Doch die Politik eines Landes, besonders über längere Zeiträume, wird durch die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Strömungen der Gesellschaft bestimmt. Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts bedeutete dies, sie ergab sich aus einem Wechselspiel liberaler und konservativer Kräfte, sowie den von ihnen gestellten Regierungen. Ausgerechnet das Wechselspiel ermöglichte den Ausbau des Empire. Der Handel verschaffte Zugang zu und Abhängigkeit von Regionen, welche dann nur noch formalisiert werden musste.
Zur Veranschaulichung dieses Mechanismus werde ich in meinem nächsten Beitrag auf die Kolonisation Indiens schauen, welche als Blaupause für die Kolonisation anderer Teile der Welt angesehen werden kann.
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