Dieser Tage hatte das staatliche Gesundheitssystem Großbritanniens, der National Health Service (NHS), sein 75-jähriges Jubiläum. Da wird es höchste Zeit über diesen zu schreiben. Zumal der Zustand des NHS ein Dauerthema nicht nur unter unseren Ärzte-Freunden ist, sondern bei allen Briten, erst recht in den Medien.
Aus den Diskussionen, denen ich folgte, ergab sich schnell, dass die Meinungen über den Zustand des staatlichen Gesundheitssystems nicht gegensätzlicher sein könnten. Einerseits sind viele Briten stolz auf ihr System. Denn es ist eines der Besten der Welt, bzw. es IST das Beste der Welt, wie die eine oder andere wohlmeinende Studie schlussfolgert [1] (typisch für Großbritannien, siehe meinen Post über britische Art). Andere sind dagegen der Überzeugung, der NHS sei in einem erbärmlichen Zustand und verschlechtere sich jeden Tag mehr.
Die Finanzierung des NHS wurde zur Propaganda für den EU-Austritt genutzt, siehe Brexit-Bus. Und bei den Demonstrationen während eines Trump Besuchs 2019 sah man in der Menschenmasse viele Transparente, die ein besseres Budget für das Gesundheitssystem einforderten.
Die Art der Auseinandersetzung ist für einen Außenstehenden zunächst überraschend emotional. Aber die Wichtigkeit des NHS für die Briten ist kaum zu überschätzen, nicht nur in Fragen der Gesundheit. Daher möchte ich dem NHS mehrere Posts widmen, angefangen mit der Frage woher die herausragende Bedeutung für viele Briten kommt. Um die Hintergründe zu verstehen, ist wieder ein Blick in die Geschichte nötig, besonders auf die jüngere Geschichte.
Bei meinem Ausflug in die Kolonialzeit habe ich die heutige Selbstwahrnehmung der Briten auf die Macht und den Status des Empire zurückgeführt. Hierbei handelt es sich jedoch „nur“ um die Wahrnehmung im Vergleich zu anderen Staaten. Bezogen auf die Identität „im Innern“ sind Aufstieg und Krise der Labour-Partei, sowie die beiden Weltkriege entscheidend.
Im 19. Jahrhundert wurde die britische Politik noch durch das Wechselspiel konservativer und liberaler Kräfte geprägt. Diese Dynamik fand mit einer Wahlreform im Zuge des ersten Weltkrieges ein Ende. Zuvor konnte kaum von allgemeinen Wahlen gesprochen werden. Im 18. Jahrhundert waren nur wenige Prozent der erwachsenen Staatsbürger wahlberechtigt: Männer, die über einen bestimmten Besitz bzw. ein bestimmtes Einkommen verfügten.
In den nächsten hundert Jahren kam es zu kleinen Erweiterungen der Wählerschaft, doch erst mit dem Weltkrieg wurde der Druck ausreichend groß, alle Teile der Bevölkerung am Wahlprozess teilhaben zu lassen. Auch Arbeiter hatten auf den Schlachtfeldern in Frankreich ihr Leben für das Vaterland gelassen. Und Frauen waren an der „Heimatfront“ stark eingebunden. Ab 1918 wurde allen erwachsenen Männern und Frauen das Wahlrecht zugestanden [1].
Mit einem Schlag wurde die Wählerschaft mehr als verdoppelt. Sie war nun ärmer und weiblicher. Als Folge verschwand die liberale Partei in der Bedeutungslosigkeit. Von nun an wechselten sich Sozialisten und Konservative in der Regierung ab. Der Staat kümmerte sich stärker um seine Bürger, bzw. mischte sich mehr in deren Leben ein, je nach Standpunkt.
Eine Entwicklung, die mit dem zweiten Weltkrieg einen Höhepunkt fand. Nicht nur musste der Staat notgedrungen mehr Aufgaben übernehmen, die Beschwerden der Zeit ließen die Nation enger zusammenrücken, ein neues Gemeinschaftsgefühl entstand.
Aus dieser Gemengelage entwickelte die Labour Regierung der Nachkriegszeit den Wohlfahrtsstaat Großbritanniens. Sie folgten einer sozialistischen Utopie, in der die gesamte Gesellschaft zentral und nach Plan verwaltet werden sollte. Die meisten Schulen und Universitäten, die wichtigsten Wirtschaftszweige, soziale Absicherung und die Gesundheitsversorgung waren nun in öffentlicher Hand. Von der Wiege bis zur Bahre sollten die Briten von der Obrigkeit umsorgt werden. An der umfassenden staatlichen Rolle wurde in den nächsten Jahrzehnten nicht gerüttelt. Der sogenannte Nachkriegskonsens hatte eine breite Mehrheit in der Bevölkerung.
Der NHS, bzw. die verschiedenen Services der einzelnen britischen Länder sind ein Kind dieser Zeit. 1948 wurden sie eingeführt. Der walisische bis 1969 unter dem Dach Englands, der nordirische unter einem andern Namen (Health and Social Care, kurz HSC).
Jeder, der medizinische Hilfe benötigte, sollte sie unkompliziert bekommen. Die Leistungen wurden bzw. werden nicht von Patienten bezahlt, sondern über Steuereinnahmen von der gesamten Gesellschaft. Dementsprechend existieren keine öffentlichen Krankenkassen (aber private, die mehr bzw. zusätzliche Leistungen abdecken.)
Der Wohlfahrtsstaat hatte mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen, etwa zu starken Gewerkschaften oder der typischen Ineffizienz planwirtschaftlicher Strukturen, dennoch hielt der Nachkriegskonsens. Labour war ohnehin nicht an einem Rückzug des Staates gelegen, die Konservativen meinten keine Veränderungen durchsetzen zu können.
So verhielt es sich noch zur Zeit der ersten Thatcher-Regierung Ende der 1970er Jahre. Privatisierungen von staatlichen Einrichtungen hatten es zwar ins konservative Parteiprogramm geschafft, doch an eine Umsetzung wagten sie sich nicht.
Generell gingen die Konservativen davon aus, bei einer Umsetzung kaum Chancen auf eine Wiederwahl zu haben. Und die nächste Labour-Regierung würde die Privatisierungen einfach wieder rückgängig machen, von Problemen mit Gewerkschaften ganz zu schweigen. So waren auch Investoren kaum an Übernahmen interessiert.
Anfang der 1980er änderten sich jedoch die Rahmenbedingungen. Die Gewerkschaften waren zerstritten und Labour hatte sich gespalteten. Für das linke Lager war das angesichts des britischen Wahlsystems eine Katastrophe: In diesem hat jeder Bürger nur eine Stimme, zur Bestimmung eines Abgeordneten im heimischen Wahlkreis.
Kam ein Labour-Kandidat zuvor auf 60 % der Stimmen und der konservative auf 40 % zog der Sozialist mit klarem Vorsprung in das Parlament ein. Doch mit nun zwei Kandidaten im linken Lager war die Wahrscheinlichkeit groß, dass keiner von beiden die 40 % Zustimmung des konservativen Kandidaten übertrumpfen konnte. Obwohl das linke Lager insgesamt weiterhin eine Mehrheit im Wahlkreis hatte, würde dieser durch einen konservativen Abgeordneten im Unterhaus vertreten. Und da es im britischen System keine Zweitstimme gibt, mit der die Mehrheitsverhältnisse des Parlaments entsprechend des Stimmungsbildes in der Bevölkerung aufgeteilt werden, konnte dies zu unverhältnismäßig großen Mehrheiten der Konservativen eben dort führen.
Anders gesagt, selbst wenn die Politik einer konservativen Regierung auf Widerstand in der Bevölkerung treffen würde, sorgte die Spaltung von Labour in Verbindung mit dem Wahlsystem dafür, dass ein Regierungswechsel unwahrscheinlich war. (Über das absurde britische Wahlsystem wird noch genauer zu sprechen sein.)
Damit öffnete sich für Thatcher und Co ein window of opportunity, um doch die Privatisierung des Wohlfahrtstaates einläuten. Und die Konservativen nutzten es. In den nächsten Jahren wurden unter anderem British Aerospace, British Telecom, Britoil, British Gas, British Coal, British Steel, British Petroleum (BP), British Airways, National Power, British Rail, Rolls Royce und Jaguar privatisiert.
Damit einher ging ein rascher Strukturwandel. Viele der Unternehmen stellten sich als wenig profitabel heraus. Sie wurden zerschlagen oder auf Effizienz getrimmt. Die Kohleindustrie verschwand fast komplett. Dagegen blühte der Dienstleistungssektor auf, insbesondere die Finanzindustrie. Das moderne, neoliberale Großbritannien war geboren.
Heute vergöttert ein Teil der britischen Gesellschaft Margaret Thatcher geradezu. Sie hat nicht nur das moderne Großbritannien geschaffen, und die Profiteure ihrer Politik unglaublich reich gemacht, sondern dem Land nach dem relativen Niedergang der Nachkriegsjahre einen neuen Glauben an sich selbst gegeben.
Der andere Teil der Gesellschaft verteufelt Thatcher dagegen. Durch die Deindustrialisierung verloren viele Arbeiter ihren Job. Gleichzeitig wurden mit dem Rückzug des Wohlfahrtsstaates viele Sozialprogramme eingestampft. Der Zusammenhalt der Gesellschaft ging verloren. Das neue Großbritannien ist in einem Zitat Margaret Thatchers gut zusammengefasst: “There is no such thing as society” [3]. Man kehrte zu einer naive-liberalen Ordnung wie im 19.Jahrhundert zurück.
Nach Thatcher waren der Wohlfahrtsstaat und seine Prinzipien größtenteils Geschichte. New Labour nahm die Zeichen der Zeit an, nach dem Wahlsieg 1997 wurde kein Unternehmen verstaatlicht. Stattdessen setzte die Partei anfangs auf public-private-partnerships, etwa im Nahverkehr, in Schulen und dem Gesundheitssystem.
Im neuen Jahrtausend trieb aber auch Labour Privatisierungen voran, obwohl im Zuge der Finanzkrise kurzfristig Banken verstaatlicht wurden. Die folgenden konservativen Regierungen änderten die Politik natürlich nicht. Als eines der letzten staatlichen Unternehmen wurde 2013 Royal Mail privatisiert.
Heute ist das öffentliche Gesundheitssystem das bedeutendste und nahezu einzige Überbleibsel des Wohlfahrtsstaates. Mehr noch: Der NHS ist eines der wenigen verbliebenen verbindenden Elemente der britischen Gesellschaft überhaupt (neben den Streitkräften). Der Rest wurde zerschlagen, privatisiert, abgeschafft.
Bei jeder Debatte über dessen Zukunft geht es daher nicht nur um die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, sondern auch um britische Identität und Selbstwertgefühl. Wie sehr, zeigt zum Beispiel eine YouGov-Erhebung von 2018. In dieser wurden Briten gefragt, welches Ereignis den größten Stolz auf ihr Land hervorruft. Die Schaffung der NHS landete auf dem ersten Platz, vor der Unterzeichnung der Magna Carta, der Größe des britischen Empire, der Abschaffung der Sklaverei und dem Kampf gegen Hitler (Und das will was heißen!) [4].
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[2] Anfangs durften Frauen ab 30 Jahren wählen, 1928 wurde das Alter wie bei Männern auf 21 abgesenkt.
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