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AutorenbildAndreas Eich

Das Englische Schulsystem und das Fehlen von Bildung

Aktualisiert: 2. Sept. 2023

Am Ende des letzten Posts habe ich mich gefragt, warum viele Briten es nicht für wichtig halten die Geschichte ihres Landes zu kennen. Dazu habe ich viel zu oft realitätsfremde Auffassungen oder gravierende Wissenslücken feststellen müssen. Bildung, also ein breites Allgemeinwissen und weitere Werkzeuge, um die Welt zu begreifen, scheint Mangelware zu sein.



Ist das Umfeld indem ich diese Erfahrungen gemacht habe, trotz seines oft akademischen Hintergrundes, ignoranter als der Rest des Landes. Oder steht es allgemein schlecht um die Bildung? Und wenn ja, warum?

Um den Fragen auf den Grund zu gehen, habe ich das hiesige Schulsystem etwas genauer angeschaut. Die folgenden Ausführungen beziehen sich wieder auf jenes in England, die anderen britischen Länder sind (leicht) anders organisiert beziehungsweise ausgerichtet.

Wie in Deutschland gibt es im Wesentlichen ein zweistufiges Schulsystem, bestehend aus Grundschule und weiterführenden Schulen. Die Grundschulen werden Primary Schools genannt. Die Normalform einer weiterführenden Schule, Secondary School, ähnelt der deutschen Gesamtschule.

Früher waren Grammar Schools weit verbreitet. Diese könnte man in etwa mit Gymnasien gleichsetzen, zur Aufnahme muss ein Test bestanden werden. Öffentliche Selective Schools, wie sie auch genannt werden, sollten eigentlich vor einigen Jahrzehnten abgeschafft werden. Viele haben jedoch bis in die Gegenwart hinein überlebt. Entweder weil sie in Privatschulen umgewandelt wurden oder weil sie die entsprechende regionale Administration am Leben hielt. Trotzdem sind sie selten genug. Nicht jedes Kind, welches die Voraussetzungen erfüllt, kann eine Grammar School besuchen.

Meine Frau ist so ein Fall. In der Umgebung ihres Elternhauses gab es zwar eine Selective School, und sie bestand den entsprechenden Test, jedoch waren die Klassen bereits mit Kindern gefüllt, die näher zur Schule wohnten. Für ein paar Wochen besuchte sie eine öffentliche Gesamtschule, bevor sie das Stipendium für ihre Privatschule erhielt. Bei denen ist es unerheblich, wie nahe die Schüler wohnen.

Neben den beschriebenen Einrichtungen gibt es noch einige Sonderformen. So bieten nicht alle Secondary Schools Unterricht in allen Jahrgängen an. Einige verzichten komplett auf Oberstufen-Klassen, andere spezialisieren sich in den fortgeschrittenen Jahrgängen auf bestimmte Fächer. Andere Schulen konzentrieren sich auf die oberen Jahrgänge oder die bei anderen Einrichtungen vernachlässigten Fächer.

Aber bleiben wir beim normalen zweistufigen System. Kinder werden in Großbritannien mit vier Jahren eingeschult. Ob man in dem Alter bereits vernünftig lernen kann, weiß ich nicht. Vielleicht wird daher das erste Schuljahr nicht als 1. Klasse bezeichnet, sondern als Reception [1]. In diesem beginnt das Lernen von Buchstaben und Zahlen. Erst mit dem zweiten Schuljahr, Year 1, werden differenzierte Schulfächer eingeführt.

Neben Englisch sind dies Mathematik, Geografie, Geschichte, Informatik, Kunst & Design, Musik, Sport, sowie Informatik und Science. Eine Fremdsprache folgt ein paar Jahre später. Mit Year 6 endet gewöhnlich die Zeit an einer Primary School. Die Schüler sind 11 Jahre alt. Zum Ende gibt es eine Reihe von Tests, die SATS (standard attainment tests). Ihr Schwerpunkt liegt auf Sprache (Lesen, Schreiben), sowie Mathe und Science.

In der Secondary School gesellen sich zu den bereits eingeführten Fächern die Disziplinen Citizenship, Religion und Sexualkunde. Am Ende von Year 11, die Schüler sind 16 Jahre alt, gibt es eine weitere Runde an Tests, die GCSEs (General Certificate of Secondary Education). Die Schüler müssen sich in mindestens fünf Fächern testen lassen, und mindestens fünf Noten im Bereich A*-C für einen erfolgreichen Abschluss erhalten.

Die Vorbereitung auf die GCSEs beginnen bereits zwei Jahre vor den Tests. Nach Year 9 können die Schüler einzelne Fächer, z.B. Geschichte, abwählen, und sich stärker auf die verbliebenen konzentrieren. Außerdem werden in einigen Fächern Kurse mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden oder Umfang angeboten, etwa in den Wissenschaften.

Mit dem Ende von Year 11 haben die Schüler den nationalen Lehrplan komplett durchlaufen und die Schulpflicht endet. Die beiden Jahre der Oberstufe, Year 12 & 13, ermöglichen wie in Deutschland einen weiteren Abschluss, der zur Qualifikation für ein Studium benötigt wird.

Die beiden Jahre gestalten sich jedoch ganz anders als bei uns. Während ich in Deutschland für mein Abitur neben zwei Leistungskursen mindestens acht Grundkurse belegen musste, reduziert sich die Fächerzahl in England zunächst auf vier und im letzten Jahr auf drei. Die Schüler können zwar mehr Fächer belegen, die Regel ist es jedoch nicht. Die Qualifizierungen aus dem ersten Jahr werden als AS-Level bezeichnet, die aus dem zweiten als A-Level.

Als ich meiner Frau von meinem großen Fächerspektrum in der Oberstufe erzählte, war sie nicht überrascht. Schließlich hatte ich meine Schullaufbahn erst mit sechs Jahren begonnen. Und viele Fächer, mit denen ich erst auf meiner weiterführenden Schule konfrontiert wurde, sind in England bereits ab einem Alter von fünf Jahren verpflichtend. Natürlich musste ich in der Oberstufe zum Ausgleich mehr Fächer belegen, meinte sie. Und bestimmt ging der Mangel an Spezialisierung auf Kosten der Wissenstiefe.

Doch die Inhalte der Lehrpläne sprechen eher gegen ihre These. In einem gut zu vergleichenden Fach wie Mathematik lernen gleichaltrige Schüler in etwa den gleichen Stoff. Einfache Differenzial- und Integralrechnung wird, wie bei uns, erst in der Oberstufe behandelt. Um in Kontakt mit Themen wie Matrizen und komplexen Zahlen zu kommen, ist gar das Fach Further Mathematics zu belegen.

Wenn die behandelten Themen die gleichen sind, kennen sich englische Schüler vielleicht besser in ihnen aus? Angesichts der Anekdoten unseres Freundes, der Mathe an einer englischen Universität lehrt, bezweifelte ich dies stark. Aber ich ging der Frage nach und tauschte mich mit einer ehemaligen Lehrerin in unserem Bekanntenkreis aus. Sie hatte Physik studiert und sogar einen Doktor gemacht. Die Begeisterung für das Fach ließ sie eine Schullaufbahn anstreben. Sie unterrichtete Mathematik und Physik an einer Secondary School.

Doch die Arbeit frustrierte sie schnell. In der Oberstufe war es ihr nicht möglich, den vorgegebenen Stoff zu vermitteln. Den Schülern fehlten sowohl Grundkenntnisse als auch Verständnis.

Als ich nach dem „Warum“ fragte, gab sie mir eine lange Antwort. Denn sie sah nicht nur ein Problem.

Das Erste: Vielerorts haben Lehrer keinen Anreiz, ihren Schülern wirklich etwas beizubringen. Ihre Arbeit wird anhand des Abschneidens ihrer Schüler evaluiert. Daher fokussieren sie ihr Wirken darauf, die Schüler durch die Tests zu bringen, egal wie. Kurzfristige Erfolge stehen über nachhaltigem Lernen.

Auf der Schülerseite sieht es nicht besser aus. Ihnen wird von Eltern und Lehrern eingebläut, nicht irgendwelchen Interessen nachzuhängen, sondern die eigene Schullaufbahn so zu planen, dass sie später einen Job finden, mit dem sie ausreichend Geld verdienen. Eine Strategie, die angesichts britischer Gehälter und Lebenshaltungskosten nur allzu verständlich ist.

Da Großbritannien vor allem ein Land der Kennzahlen und –zeichen, ist, versuchen die Schüler eben diese so direkt es geht zu optimieren. Wer etwa einen Job in der gut bezahlten Finanzindustrie anstrebt, sollte einen Mathematikabschluss von einer hoch gerankten Universität vorweisen. Für die Zulassung an einer derartigen Hochschule, wird wie beschrieben ein guter Schulabschluss mit A-Levels in Mathematik, Further Mathematics, sowie einem verwandten Fach benötigt.

Daher belegen viele Schüler in der Oberstufe Physik. Nicht um die Welt zu verstehen, sondern um ihre Karriere zu fördern. Und das Verständnis der Materie ist zweitrangig, solange die Ergebnisse bei den Examen stimmen. Die unserer Freundin anvertrauten Schüler wollten daher gar nicht mehr Verständnis vermittelt bekommen, sondern auch in der Oberstufe die einfachsten Methoden lernen, um gute Abschlussnoten zu erhalten.

Unsere Bekannte hatte nach wenigen Jahren den Lehrerberuf entnervt verlassen. Vielleicht sollte ich bei der Bewertung ihrer Aussagen vorsichtig sein. Eventuell ist sie damals an einer ganz furchtbaren Schule gelandet. Und ihre Frustration hat die Erzählung zusätzlich negativ eingefärbt.

Andererseits würden ihre Ausführungen endlich erklären, warum unser Uni-Freund mit Studierenden geschlagen ist, die nicht mal das Einmaleins beherrschen. Und der beschriebene Fokus auf Fächer, die karrierefördernd sind, deckt sich mit der von mir beobachteten Abwertung des Fachs Geschichte

Stimmen ihre Erzählungen, meine ich eines der grundlegenden Probleme Großbritanniens identifiziert zu haben. In Deutschland soll Schule vor allem Bildung vermitteln. Bis in die oberen Klassen wird eine Vielzahl an Fächern unterrichtet. In den letzten Jahren geht es verstärkt um die Anwendung von Wissen, denn Schüler sollen nicht nur über ein realistisches Weltbild verfügen, sondern in der Lage sein, das Bild selbständig anzupassen. All das geschieht aus guten Gründen. Bildung hilft das eigne Leben zu bewältigen und auch Gesellschaften profitieren von einem gehobenen Bildungsniveau der Bevölkerung, besonders Demokratien. Wenn Wähler die Welt nicht verstehen, besteht die Gefahr, dass sie Opfer von Populisten werden, wirre Geschichten glauben und gegen ihre Interessen stimmen.

Das deutsche Schulsystem verpasst oft genug das gesetzte Ziel. Bei manchen meiner Bachelor-Studenten habe ich mich gefragt, wie sie das Abitur bestehen konnten. Und die Lehrer in meinem deutschen Freundeskreis könnten mit ihren Geschichten zu dem Thema ganze Bücher füllen. Aber im Vergleich zum englischen System schneidet unseres immer noch blendend ab.

Dessen Zielsetzung ist nicht Bildung, sondern Ausbildung. Tatsächlich gibt es im englischen nicht mal eine Entsprechung zum deutschen Bildungsbegriff. Bereits im Alter von 14 Jahren beginnen sich die Kinder zu spezialisieren. In vielen Fächern können nur Grundlagen vermittelt werden. Und die werden oft genug kaum geschätzt, denn wichtig ist nur, was karrierefördernd eingesetzt werden kann.

Selbst bei der Spezialisierung scheint das System zu scheitern. Wegen der Zielsetzung aller Beteiligten nur bei Tests gut abzuschneiden, anstatt Wissen nachhaltig zu vermitteln.

Damit meine ich meine einleitenden Fragen beantworten zu können: Allgemeinbildung wird in Großbritannien wirklich keine hohe Bedeutung beigemessen und den Rest verhunzt das System. Ich würde ja vor den Folgen für die Gesellschaft warnen, aber dafür ist es wohl zu spät.


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[1] Die Reception ist Teil der Foundation. In dieser sollen die Grundlagen des Lernens schaffen werden. Die Foundation beginnt bereits in der Nursery.

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