In einem früheren Beitrag schrieb ich über die Kosten von Privatschulen aber auch über die Chancen, die sie bieten. Am Ende erzählte ich von Freunden, die eine Privatschule besucht hatten und wie sie der Meinung waren ihre Karriere würde natürlich auf ihren eignen Leistungen beruhen, nicht auf dem Besuch einer Privatschule. Trotzdem würden sie ihre Kinder unbedingt auch auf eine Privatschule schicken wollen. Inzwischen glaube ich zu wissen warum. Die letzte Recherche zu Eton College, sowie den Karrieren von David Cameron, Boris Johnson und ihren Familien war der letzte Mosaikstein. Andere waren die Recherchen zu Gehältern und Lebenshaltungskosten, auch zu den Kosten für Kinderbetreuung, zu Schulen und Universitäten, sowie dem britischen Verständnis von Bildung, zum Gesundheitssystem und der Lebensrealität vieler Briten.
Der Besuch einer guten Privatschule steht für so viel mehr, auch wenn vieles davon mit der Karriere und höheren Einnahmen verbunden ist. Wird keine bessere Schule besucht, stehen die Chance gut, dass das Leben wie folgt aussieht: Man muss sich durch ein dysfunktionales Bildungssystem kämpfen, um auf dem Papier Fähigkeiten zu „erlernen“, die für einen halbwegs lukrativen Job nötig sind.
Gelebt wird in einem kleinen Haus, das aussieht wie alle anderen in der Straße, wenn nicht wie im gesamten Viertel. Verschuldet und unterbezahlt, muss an jedem Haushaltsposten gespart werden, ob an Nahrung, Möbeln oder der Heizung. Sie glauben nicht, wie kalt viele englische Behausungen sind.
Das Leben ist karg, aber es wurden ohnehin keine großen Erwartungen oder Bedürfnisse geweckt. Der Bildungshorizont ist ebenso reduziert, wie die Auswahl in den Supermärkten. Die Schönheit von Kunst und Literatur hat eine so geringe Bedeutung wie die eigene Geschichte. Es zählt vor allem genug Geld zu verdienen. Bei Krankheit hilft das Gesundheitssystem häufig nur unzureichend. Vielfach gestresst und körperlich eingeschränkt, kämpft man sich durch die Jahre.
Das System sieht im Grunde nur so viel Unterstützung vor, dass sie einen Job zu erfüllen können. Viele Briten sind zu Arbeitsbienen degradiert.
Wie anders ist die Lebenswelt von Privatschülern. Der Besuch einer Top-Universität ist nahezu garantiert, und damit der Zugang zu gut bezahlten Berufen, die in Großbritannien weit mehr zum (Über-)Leben nötig sind als bei uns.
Es fällt leichter, die eigene Immobilie oder die Kinderbetreuung zu bezahlen und dem Nachwuchs eine karrierefördernde Ausbildung zu ermöglichen. Außerdem wird eine private Krankenversicherung gestellt, oder man kann sie sich selbst leisten. So steht eine gute medizinische Versorgung zur Verfügung, wenn sie benötigt wird, und nicht erst Wochen oder gar Monate später.
Und nicht zu unterschätzen: Man wird Teil eines kleinen aber eng vernetzten Kreises, in dem verschiedene Gruppen vielleicht in Konkurrenz zueinander stehen, der sich aber auch gegenseitig fördert bzw. auffängt: David Cameron gelangte ohne Karriere in Industrie oder Politik in die Führungsriege eines Kommunikationsunternehmens, Boris Johnsons journalistische Karriere wäre nach dem Rauswurf bei The Times eigentlich beendet gewesen, bevor sich richtig begonnen hatte. Vor allem Johnsons Werdegang ist ohne das Netz aus Freunden und Bekannten in hohen Positionen nicht denkbar.
Privatschüler können ebenfalls eine stressige Schulzeit durchlaufen, eine Breitenbildung erfahren auch sie kaum, und in ihrem Leben wird sich vieles um das liebe Geld drehen. Doch andere Werte zählen ebenfalls. Ihre Schulen fördern Talente. Die Kinder sollen ihre Interessen ausleben. Meiner Frau wurde etwa geraten, eine Karriere als Künstlerin zu starten. Als sie sich entschloss Medizin zu studieren, waren ihre Lehrer regelrecht beleidigt.
Die Folge sehen wir in unserem Freundeskreis. Ehemalige Privatschüler richten ihre Immobilien mehr wie das deutsche Bildungsbürgertum ein. Es gibt Bücherregale und Bilder an der Wand. Weitere Einrichtung ist nicht nur vorhanden, sondern mit einem Sinn für Ästhetik zusammengestellt. Selbst wenn bei den Bewohnern das Geld knapp ist.
Die Begegnung mit Absolventen elitärer Bildungseinrichtungen kann aber auch frustrierend sein. Ich habe oft genug erlebt, wie bei Diskussionen ganz selbstverständlich die eigne Alma Mater genannt wird, um Argumenten mehr Nachdruck zu verleihen. Und besonders einige Oxford-Absolventen zeigen ein Gehabe, als ob sie etwas Besseres wären. Sie verzichten auf jedes sachliche Argument, die eigne Überzeugung reicht ihnen vollkommen aus, um ihre Position zu untermauern. Beide Verhaltensweisen wären einfach nur lächerlich, wenn andere nicht mit Unterwürfigkeit reagieren würden.
Das britische Volk scheint sich immer noch in Aristokraten und Gemeine einzuteilen. Nur wird die Barriere nicht über mittelalterliches Ständedenken definiert und aufrechterhalten, sondern über Geld und das Bildungssystem. Wer über die Mittel verfügt, darf seine Persönlichkeit entfalten, genießt Ansehen, macht Karriere, lebt gesund, und kann seinen Kindern das gleiche Leben ermöglichen.
Ohne Vermögen wird man zum Schuften ausgebildet, die eigenen Interessen sind egal, die Gesundheit ebenso, und die Chancen, dass es den Kindern besser ergehen wird, stehen schlecht. Man kämpft sich ab, um Mieten oder Banken zu bezahlen, anders gesagt, um den Besitzern der Wohnung oder den Aktionären der Banken das Leben zu finanzieren. Eben wie in einer Aristokratie, nur mit anderen Mitteln.
Der Wegfall des Wohlfahrtsstaates hat die Spaltung verstärkt. Die Eliten wurden von der „Last“ befreit, sich um die Arbeiterdrohnen kümmern zu müssen. There is no such thing as society. Und die fehlende Bildung hat den Nebeneffekt, dass die Massen die wirklichen Ursachen ihrer Misere nicht verstehen. Ansonsten wären sie nicht von der Illusion einer EU-Diktatur in die Irre geführt worden, sondern hätten gegen die eigentlichen Verantwortlichen rebelliert...
Ich gebe zu, meine Einschätzung der britischen Gesellschaft ist arg zugespitzt. Wie alles im Leben lässt sie sich nicht in schwarz und weiß einteilen, sondern weist viele Schattierungen auf. Top-Universitäten sind nicht der Geldelite vorbehalten, selbst in Oxford sind jedes Jahr knapp 60 Prozent der britischen Studienanfänger Absolventen öffentlicher Schulen [2]. Natürlich gibt es staatliche Lehranstalten, die auch die Interessen ihrer Schüler fördern.
Viele Briten und Arbeitgeber scheren sich wenig um den Namen der besuchten Bildungseinrichtung, Briten dürfen ihre Freizeit gestalten, wie sie wollen, die Ärzte des NHS sind sehr um ihre Patienten bemüht, und überhaupt sind die meisten Briten liebenswerte Menschen, die andere freundlich in die Arme schließen.
Einige unserer Freunde versicherten mir gar die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulen seien nur folkloristisch. Aber ganz lässt sich der Hang zur Klassengesellschaft nicht von der Hand weisen. Immerhin sind um die 40 Prozent der britischen Studierenden in Oxford Privatschüler, obwohl sie nur knapp 7 Prozent der Schülerschaft Britanniens ausmachen. Und laut einem Report des Sutton Trust, besetzen ehemalige Privatschüler auch im Berufsleben überproportional viele Spitzenpositionen. So haben etwa 65 Prozent der Senior Judges und 44 Prozent der Newspaper Columnists einen entsprechenden Hintergrund. Bei den Topverdienern in der Glitzerwelt des Showbusiness (Film, TV und Musik) sind es 38 Prozent. Sie stellen 45% der Abgeordneten der konservativen Partei im Unterhaus, mehr als die Hälfte der Kabinettsmitglieder hat eine Privatschule besucht [2].
Oft musste ich feststellen, dass unsere Freunde in ihren jeweiligen Blasen gefangen sind. Etwa als ich mit ihnen meine Gehaltsvorstellungen diskutierte. Jene, die öffentliche Schulen und gute Universitäten besucht hatten, und in einem „normalen“ Jobumfeld arbeiten, hielten meine Gehaltsvorstellungen für so lächerlich wie mein Recruiter. Kein Physiker könnte als Angestellter 60 oder gar 70.000 GBP im Jahr verdienen. Teilweise bezweifelten sie gar, derartige Einkommen seien in Deutschland möglich.
Andere Freunde, Privatschüler, Absolventen der elitärsten Universitäten, und jetzt in verschiedenen Funktionen in der City of London tätig, bedauerten uns Deutsche dagegen sehr. Niedrige Gehälter werden da in der Bundesrepublik gezahlt, in Großbritannien werde ich mit meinem Doktor doch mindestens 150.000 GBP im Jahr verdienen, egal in welcher Branche. Von ihren geistigen Fähigkeiten nehmen sie die verschiedenen Freunde übrigens nichts, sie entstammen einfach verschiedenen Schichten.
Aufgrund unseres differenzierten Freundeskreises, sowie meiner Perspektive von außen, nehme ich die Spaltung der Gesellschaft wohl stärker war als andere. Dabei kann man sie auch im Alltag bemerken, wenn man die Augen offenhält. So wohnten die verschiedenen Schichten in unserem Viertel zwar Haus an Haus bzw. Wohnung an Wohnung, aber sonst gingen sie getrennte Wege, angefangen beim Einkaufen.
Wenig überraschend traf ich in Delikatessengeschäften und Waitrose nur die Reicheren an. Gehobene Preise muss man sich leisten können. Am anderen Ende des Preisspektrums, bei Lidl, Aldi oder Iceland, war ich aber aus Deutschland gewohnt, von allen Einkommensschichten umgeben zu sein. Auf der Insel ist das nicht der Fall. Neben mir fanden sich bei unserem Lidl ein paar andere Ausländer, einige Studenten, sowie die britische Unterschicht ein.
Der Ton im Laden war rau. Schon nach ein paar Wochen wurde ich dort öfter Arschloch genannt als in meinem ganzen Leben zuvor. Und wer weiß, was sonst noch alles. Abgesehen von asshole verstand ich kaum ein Wort von dem, was mir entgegnen geschleudert wurde. Englische Akzente und Redensweisen sind viel stärker an die soziale Herkunft gebunden als bei uns. Teilweise ist gar die Grammatik eine andere. Auch meine Frau versteht Briten aus niederen Klassen oft nicht. Bei Waitrose sind dagegen alle Kunden zurückhaltend freundlich, und jedes einzelne Wort ist verständlich.
Doch, ich glaube die britische Gesellschaft ist immer noch stark von Klassen und Klassendenken bestimmt. Die Spaltung mag nicht absolut sein, aber sie ist viel präsenter als in Deutschland, viel ausgeprägter als sich manche Briten eingestehen wollen. Und führt dazu, dass eine kleine Gruppe aus der Oberschicht das Land regiert, ohne eine Ahnung vom wahren Leben in Großbritannien zu haben.
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Anmerkung 2: Der Blog ist zurück, aber mit unregelmäßiger Taktung, so wie unser Nachwuchs es erlaubt ;).
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