Neben Einwanderung war der britische Status für viele ein wichtiger Grund für den Brexit zu stimmen.
Da wurde die EU als eine quasi Diktatur wahrgenommen, welche dem freiheitsliebendem Land Vorschriften machte. Eine Wahrnehmung die mit der Realität kaum zu vereinbaren ist. Entscheidungen müssen in der Union entweder mit großen Mehrheiten oder einstimmig beschlossen werden. Die legislative Macht ist außerdem aufgeteilt. Die meisten Gesetzen benötigen sowohl im europäischen Parlament, deren Mitglieder direkt von den europäischen Völkern bestimmt werden, als auch der Ministerrat eine Mehrheit.
Im letzteren kommen Mitglieder der nationalen Regierungen zusammen. Falls den Deutschen unter den Lesern das Prozedere vage bekannt vorkommt, in unserer Republik läuft es mit Bundestag und Bundesrat ähnlich. Leser aus anderen Demokratien dürften ebenfalls Parallelen zu den Gesetzgebungsverfahren in ihren Ländern feststellen. Die Aufteilung der Legislative und die Anwendung unterschiedlicher Mehrheitsverfahren gehören wie viele andere Verfahren und Institutionen der EU zu den Prinzipien moderner Demokratien. Und sie lassen sich oft auf Errungenschaften der britischen Demokratie zurückführen, die anschließen in die Welt exportiert wurden.
Dass sich trotzdem viele Briten an den Verfahren stören an, hat einerseits mit der Entwicklung der britischen Institutionen in den letzten 150-200 Jahren zu tun, und ist ein wunderbares Thema für einen weiteren Beitrag, andererseits kommt hier der Selbstwahrnehmung der Briten zum Tragen. (Neben der Unwissenheit vieler Briten, wie die EU überhaupt funktioniert, und dass das Vereinigte Königreich all die Verfahren mitgestaltet und ihnen zugestimmt hat.)
Die besondere Selbstwahrnehmung konnte ich auch bei jenen Briten feststellen, die einen EU Austritt für ausgemachten Schwachsinn halten. Besonders ein Gespräch blieb mir in Erinnerung: Auf einer Party kurz vor dem geplanten EU-Austritt im März 2019, sprach ich mit einem englischen Arzt aus guter Schule und hervorragender Universität auf angenehmem Niveau über Gott und die Welt.
Doch dann kamen wir auf die laufenden Brexit-Verhandlungen zu sprechen und die zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU, er sagte: „Was ich nicht verstehe, warum gibt uns die EU nicht einfach, was wir wollen?“ Konkret bedeutete dies Zugang zum europäischen Binnenmarkt, ohne europäischer Gerichtsbarkeit zu unterstehen, ohne Ausgleichszahlungen, ohne anderwärtig offene Grenzen, etc.
Etwas verwundert erwiderte ich, die Zugeständnisse sind für die EU nicht akzeptabel. Würde das Vereinigte Königreich mit seiner Rosinenpickerei durchkommen, würden andere EU-Staaten ähnliches versuchen. Einige Staaten würden sich den demokratischen Standards entziehen, aber noch Fördergelder erhalten wollen. Andere würden eben die nicht mehr zahlen. Kurz gesagt, die EU würde aufhören zu existieren. Wie in jeder Gesellschaft müssen die Teilnehmer aufeinander eingehen, Rücksicht nehmen und allgemeingültige Regeln respektieren.
Mein Gegenüber war nicht beeindruckt. Und das Gespräch entwickelte sich zu einer Diskussion wie mit einem Kleinkind.
Er: Aber wir wollen das so.
Ich: Ja, aber die EU will etwas anderes.
Er: Ja, und?!
Ich: Ihr wollt etwas, die EU will etwas anderes. Daher kommt es zu Verhandlungen, beide Partner gehen aufeinander zu, es kommt zu Kompromissen. Man einigt sich.
Ich verschwieg, dass die EU weit weniger Kompromisse eingehen wird, da sie viel mächtiger ist.
Er: Nein, wir wollen keine Kompromisse, warum gibt uns die EU nicht, was wir wollen?
Ich: Ok, anders gefragt, warum sollte die EU euch Briten geben, was ihr wollt?
Er: Weil wir es wollen.
Arg…
Ich: Warum, spielen eure Wünsche eine größere Rolle als die der EU? Warum sollte die Union euch etwas geben, was ihr selbst zum Nachteil gereicht?
Er: Weil wir Briten sind.
Ich: Ja, und?!
Er: Wir sind eben Briten!
Ich: Was soll das bedeuten?
Er: Wir sind etwas Besonderes!
Ich, verwundert: Nun ja, alle Völker dieser Erde unterscheiden sich mehr oder weniger voneinander, und sind etwas Besonderes.
Er: Ja, stimmt schon. Aber wir sind auf eine besondere Weise besonders.
Ich: Und die wäre?
Er: Wir sind was Besseres!
Ich (nach kurzem Schweigen): Warum?
Er: Weil wir Briten sind!
…
Das Gespräch ist natürlich aus dem Gedächtnis wiedergegeben. Aber es hat sich fast genau so zugetragen. Ich konnte es nicht fassen. Mein Gegenüber hatte sich bis dahin weltoffen und reflektiert gezeigt. Doch ging es um die Briten und ihren Status in der Welt, war es damit vorbei.
War der Glauben an eine irgendwie geartete Sonderstellung Großbritanniens ein weiter verbreitetes Phänomen? Ein Argument der Brexiteers war ja, dass die Briten beim Abschließen von Handelsverträgen nicht nur viel kompetenter als die EU sein würden, sondern, dass andere Staaten es kaum erwarten könnten, diese, für das Vereinigten Königreich so vorteilhafte Abkommen, einzugehen.
In späteren Runden lenkte ich die Gespräche immer mal wieder auf den Status der Briten in der Welt. Und was soll ich sagen, je weniger wir uns in unserem direkten Londoner Umfeld aus jungen Akademikern mit internationalem Hintergrund bewegten, desto mehr Leute glaubten an eine britische Sonderstellung. Aus meiner persönlichen Recherche kann ich nicht genau abschätzen wie weit verbreitet der Glaube ist. Eine signifikante Minderheit wird es mindestens sein, eine große Mehrheit kann ich nicht ausschließen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Keiner war der Meinung, die britische „Rasse“ sei von Natur aus edler oder besser. Briten stehen nicht per se über anderen Völkern. Der Tenor war eher, dass die Briten in der Geschichte etwas Besonderes geleistet haben und daher Vorrechte genießen bzw. sich der Dankbarkeit anderer Völker sicher sein können.
Im Grunde hätte ich bei der ersten Gelegenheit eine Diskussion über das „warum“ anstoßen sollen. Doch ich war von den Ansichten meiner Gesprächspartner zu überrascht und musste sie zunächst einmal verarbeiten. Außerdem meinte ich, für eine Diskussion ein wenig Weiterbildung zu benötigen, hatte ich doch ich in meiner Schulzeit wenig über britische Wohltaten in der Welt gelernt.
Die nächsten Wochen verbrachte ich daher mit Literatur über britische Geschichte. Nicht nur um mich für weitere Auseinandersetzungen zu rüsten. Simon Jenkins versprach in seinem Buch A Short History of England: „England’s history is the most exciting of any nation on earth. “ Hört sich doch spannend an!
Und das war es. Die Lektüre so erhellend, dass ich die Ergebnisse meiner Recherche mit ihnen teilen möchte. Keine Sorge, ich bombardiere sie nicht mit einem Dutzend Themen aus noch mehr Jahrhunderten. Aber in meinen nächsten Beiträgen werde ich sie auf einen kleinen Ausflug in die Kolonialgeschichte ab dem 19. Jahrhundert nehmen. Denn die Ansichten vieler Briten scheinen mir immer noch von dieser Zeit geprägt zu sein.
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