Viele Brexiteers wünschen sich ja die alten Zeiten zurück, als der Freihandel Großbritannien, aber irgendwie auch alle anderen Staaten, reich gemacht hat. In meinem vorletzten Beitrag habe ich bereits ausgeführt, dass dieser Freihandel, aufgrund der industriellen Revolution im Vereinigten Königreich und damit einhergehenden Warenfülle, ihrer Qualität und ihrer Preise vor allem für britische Händler von Vorteil war. Aber hier hörte es nicht auf.
Viele Liberale, damals wie heute, beschützten nicht den Freihandel an sich, bei dem alle Marktteilnehmer frei ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen nachgehen konnten. Stattdessen schufen sie unter dem Deckmantel schöner Ideale ein System, in dem das Recht des Stärkeren regierte. Anders gesagt, es wurde vor allem die Interessen der Briten durchgesetzt. Zu dem Vorgehen möchte ich hier zwei Beispiele vorstellen.
Zunächst geht es um Salz. Und um eine Hecke von monumentalen Ausmaßen, deren Geschichte ohne die Aufarbeitung durch Roy Moxham in seinem Buch „The Great Hedge of India“ wohl in Vergessenheit geraten wäre.
Aber von Anfang an. Wir haben wohl alle eine Packung Salz in der Küche stehen. In unserer Überflussgesellschaft ist das Zeug billig und in rauen Mengen zu haben. Wir nehmen so viel Salz zu uns, dass wir mit den weißen Kristallen vor allem gesundheitliche Probleme assoziieren. Doch die Grundbausteine Natrium und Chlor werden für viele Prozesse in unserem Körper benötigt, etwa im Nervensystem, bei der Verdauung oder zur Regulierung des Wasserhaushaltes.
Salzmangel äußert sich zuerst durch Kopf- und Muskelschmerzen, Schwindel oder Erbrechen, später kann er zu Bewusstlosigkeit oder Hirndruck führen, der Tod ist nicht auszuschließen. Doch selbst geringerer Salzmangel kann Konsequenzen haben, wenn Krankheiten wie Cholera oder Typhus dem Körper zusätzlich Salz entziehen.
Schließlich spielt Salz eine wichtige Rolle bei der Versorgung von Nutztieren und der Konservierung von Lebensmitteln. Salz ist eine wichtige Ressource, die jeder Mensch benötigt. Der Markt ist riesig, immer und überall, ob heute in Europa oder vor zweihundert Jahren in Indien… wobei, besonders dort. Immerhin verlieren Menschen eine gehörige Menge der Mineralien, wenn sie schwitzen. Und der Subkontinent ist warm, gelinde gesagt.
Der ständige Bedarf machte Salz in vielen Staaten zu einem idealen Gut für Besteuerung. Doch die britische Ostindien-Kompanie hatte diese mit ihrem Profitstreben auf eine neue Stufe gehoben. Um 1780 brachte die Handelsgesellschaft den Salzhandel in dem von ihr beherrschten Bengalen unter Kontrolle. In den folgenden Jahren erhöhte sie die Steuer durch verschiedene Mechanismen auf mehr als das Zehnfache des ursprünglichen Betrages.
Es ist schwer zu sagen wie viel Salz genau ein durchschnittlicher Mensch im Jahr benötigt, oder wie hoch das exakte mittlere Einkommen in der Region damals war. Aber es lässt sich recht sicher sagen, dass viele Familien ein oder mehrere Monatseinkommen aufbringen mussten, alleine um die Steuer für den Jahresbedarf an Salz zu begleichen. Durch die hohe Abgabe wurde sogar der Einfuhr von Salz aus Großbritannien wirtschaftlich. Um 1850 soll fast die Hälfte des in Bengalen konsumierten Salzes aus England importiert worden sein [1].
Wenig überraschend versuchten viele Einheimische die Steuer zu umgehen, unter anderem indem sie Salz aus anderen Teilen des Subkontinents einschmuggelten. Um den Schwarzmarkt auszutrocknen, errichteten die Briten zunächst Zollhäuser an wichtigen Grenzübergängen. Doch die halfen wenig. Als nächstes wurden Wachstationen entlang der Grenze gebaut. Zusätzlich wurden Hindernisse errichtet, etwa Wälle oder Totholzhecken.
Natürlich verschwand die Zolllinie nicht, als Indien zu einer Kronkolonie wurde. Zu ihrem Schutz wurden inzwischen auch lebende Hecken mit Dornen gepflanzt, so dicht, dass der von Ihnen gebildete Wall kaum durchstoßen werden konnte. Teilweise erreichte sie eine Höhe von drei und eine Dicke von vier Metern. 1878 erstreckte sich die Lebendhecke wohl über eine Länge von mehr als 1.300 km, die gesamte Anlage über 2.400 km. Zum Vergleich, die innerdeutsche Grenze hatte eine Länge von knapp 1.400 km. So viel Grenze muss erst mal gebaut, gepflegt und patrouilliert werden. 1872 waren dafür über 14.000 Menschen angestellt. Alleine an diesen Zahlen wird ersichtlich wie lukrativ die Salzsteuer gewesen sein muss [1].
1879 wurde die inländische Zollgrenze größtenteils abgeschafft, denn Schmuggel und damit dessen Kontrolle lohnten sich nicht mehr. Die Briten hatten die gesamte indische Salzproduktion unter ihre Kontrolle gebracht. Vielerorts wurden die lokalen Steuern einander angeglichen, auf hohem Niveau versteht sich.
Der chronische Salzmangel innerhalb der indischen Bevölkerung, und die damit einhergehende eingeschränkte Gesundheit, soll einer der Gründe für die äußerst hohen Todesraten in Indien während der Epidemien der folgenden Jahrzehnte gesehen sein. Während der Spanischen Grippe, DER Pandemie des 20. Jahrhunderts zum Ende des 1. Weltkrieges, Schätzungen gehen von ca. 14 Millionen Toten aus, nur für jene Teile des Subkontinents die unter direkter britischer Herrschaft standen. [2] (Dies würde mehr als 5 Prozent der damaligen Bevölkerung entsprochen haben).
In den 1930er Jahren nutze Gandhi das Salzmonopol, um gegen die britische Herrschaft zu demonstrieren. Sein Salzmarsch machte die Zustände auf in Indien weltbekannt, und läutete das Ende des Monopols ein.
Auch die zweite Geschichte dreht sich um ein Nahrungsmittel, um Tee. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde dieser in Großbritannien immer beliebter und mauserte sich zum Nationalgetränk. Die Ware musste aus China importiert werden, denn in Indien wuchsen Teepflanzen vor allem in ihrer wilden Form, Anbaugebiete gab es kaum. Der Subkontinent konnte weder die Menge noch die Qualität liefern, die für den Konsum in Großbritannien benötigt wurde.
Zum Tausch hätten die britischen Händler gerne eigene Waren angeboten. Doch China zeigte an diesen, wie an fremden Kulturen insgesamt, nur geringes Interesse. Um den ausländischen Einfluss einzuschränken, durfte der Außenhandel allein über Kanton (Guangzhou) abgewickelt werden. Und Handel bedeutete vor allem, die Fremden mussten chinesische Güter mit Silber und Gold bezahlen. Neben Tee gehörten auch Seide und Porzellan zu den begehrten Produkten.
Mit der Zeit sorgte der Tausch für Probleme. Tee ist etwa ein nachwachsender Rohstoff. Silber und Gold sind dagegen schwer abzubauen und endlich. Den Händlern ging langsam das Edelmetall aus. Für ihr Dilemma gab es drei Lösungen. Sie konnten indischen Wildtee kultivieren und anbauen, sie erwarben Teepflanzen aus dem Kaiserreich und bauten diese an, oder sie konnten die Chinesen doch noch für ihre Waren interessieren.
Die ersten beiden Möglichkeiten kamen nur als langfristige Lösungen in Betracht. Der Aufbau von Teeplantagen kostete Zeit, ebenso die Kultivierung des Wildtees. Und die Beschaffung von Pflanzen oder Samen aus China war gefährlich. Ihre Ausfuhr war strengstens verboten. Beide Ansätze waren letztendlich erfolgreich, aus den Wildpflanzen entwickelte sich Assam Tee, aus gestohl… importierten Samen Darjeeling, aber relevant wurden sie erst spät, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
„Zum Glück“ fanden die britischen Händler doch noch ein Produkt, dass in China reißend Absatz fand: Opium. Viele Chinesen waren ganz verrückt nach der Droge. Die Kompanie ließ den Stoff in Indien anbauen, verarbeiten und verpacken, bevor sie ihn transportfertig an nicht-assoziierte Händler verkaufte, welche die Droge ins Reich der Mitte schafften. Die chinesische Obrigkeit verbot zwar mehrfach den Handel und versuchte Schmuggel zu unterbinden, doch vergeblich. Zwischen 1801 und 1839 verzehnfachte sich die eingeführte Menge nahezu [3]. Als Folge kippte die Außenhandelsbilanz des Reiches, nun floss das Silber in rauen Mengen aus dem Land [3].
1839 schickte die chinesische Regierung einen Brief an Queen Victoria mit der Bitte, den Schmuggel zu unterbinden. Der Brief wurde ignoriert oder kam nie an. Schließlich wurde auf Anweisung des Kaisers sämtliches Opium im Land konfisziert, auch das im Besitz ausländischer Händler. In den folgenden Wochen und Monaten kam es in Kanton zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit bereits vor Ort stationierten britischen Truppen.
Die britische Obrigkeit benötigte eine Weile, bis sie sich zu einer Reaktion durchrang. Ein Lager war empört über die staatliche Unterstützung von Drogenhändlern. Ein anderes sah die britischen Händler als Opfer, und die chinesische Intervention als Angriff auf den Freihandel.
Außerdem waren den Händlern von staatlichen Vertretern vor Ort Kompensationszahlungen versprochen worden. Nur woher das Geld nehmen? Steuergelder zur Kompensation von Drogenbaronen einzusetzen, hätte das Lager der Empörten sprunghaft größer werden lassen.
Schließlich setzte sich die Seite durch, die den Freihandel gefährdet sah. Ein Expeditionskorps aus staatlichen und Kompanie-Einheiten wurde nach China entsandt, um die Forderungen der britischen Seite durchzusetzen. Das waren unter anderem Zahlungen an britische Händler, die Öffnung weiterer Häfen für ausländische Mächte, einen bevorzugten Status Britanniens als Handelspartner und die Abtretung einer Insel vor der chinesischen Küste, die den Briten als Basis dienen sollte.
Die britischen Truppen waren den chinesischen in vielen Belangen überlegen. Die Fußsoldaten waren besser ausgestattet und wurden bei ihren Aktionen von Schiffsartillerie unterstützt. Die Schiffe verfügten nicht nur über mehr Feuerkraft als ihre Gegenstücke, sondern waren dank Dampfantrieb manövrierfähiger. Anders ausgedrückt, die Briten konnten machen, was sie wollen. Sie blockierten Häfen und Flussmündungen, eroberten Forts und ganze Städte. Die Kanonenbootdiplomatie war geboren.
Der chinesischen Regierung blieb nichts anderes übrig als einzulenken. Entschädigungszahlungen wurden geleistet, weitere Häfen geöffnet, Hong Kong fiel an die Briten. Der Drogenschmuggel ging weiter. Knapp 15 Jahre später kam es im Zuge des Opium-Konflikts zu einer weiteren militärischen Auseinandersetzung. An deren Ende musste China weitere Konzessionen eingehen, u.a. wurde der Opiumhandel legalisiert. Der „Freihandel“ hatte gesiegt.
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[1] Roy Moxham, "The Great Hedge of India", Constable (2001)
[2] Siddharth Chandra et al., “Mortality From the Influenza Pandemic of 1918–1919: The Case of India”, 857-865, 49(3) Demography (2012), https://doi.org/10.1007/s13524-012-0116-x
[3] Man-houng Lin, “China Upside Down: Currency, Society, and Ideologies, 1808–1856”, Harvard University Asia Center (2006)
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