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AutorenbildAndreas Eich

Brexiteers, die Selbstbestimmung, der NHS und die Einwanderung

Aktualisiert: 2. Sept. 2023

Eine Frage, die ich mir im Angesicht all der Probleme gestellt hatte, war: Warum rebelliert die Bevölkerung nicht gegen ihre Politiker? Frustriert sind zwar viele, aber ihre Frustration hat die Wähler nicht dazu veranlasst massenhaft für eine Zeitenwende in der britischen Politik zu stimmen. Der Protest bahnte sich einen anderen Weg, mit einer knappen Mehrheit stimmten die Briten beim EU-Referendum für einen Austritt aus der Union. Offensichtlich waren viele Wähler der Meinung ein Brexit würde ihre Probleme lösen können. Spontan erschloß sich mir die Logik nicht, aber ich bin ja lernwillig und interessiert.



Während meiner Besuche in den letzten Jahren hätte ich mich gerne mit britischen Freunden zum EU-Austritt ausgetauscht, alleine es ging nicht. Der Brexit war Dauerthema in den Medien und mögliche Gesprächspartner waren von dem Gedöns so genervt, dass keiner über den Austritt reden wollte. In den ersten Monaten nach meinem Umzug sah das anders aus. Der Brexit stand, vermeintlich, kurz bevor. Die Aussicht, nie wieder mit dem Thema konfrontiert zu werden, löste die Zungen. Nur waren die meisten Gespräche höchst langweilig. Unser direkter Freundeskreis hält den Brexit für ausgemachten Schwachsinn, der Großbritannien und ihnen persönlich auf Jahrzehnte schaden wird.

Die breite Ablehnung in unserer Umgebung war kein Wunder. Nach dem Referendum wurden die Wähler von Meinungsforschungsinstituten genauestens durchleuchtet und in zig Kategorien aufgeteilt, etwa nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildungsgrad, Einkommen oder Berufsart[1]. Eine sehr ausführliche Analyse findet man zum Beispiel bei www.Lordashkroftpolls.com.

Jüngere Menschen hatten eher für einen Verbleib in der Union gestimmt, ebenso Akademiker und Großstädter, insbesondere jene aus London. Auf unsere Freunde treffen alle drei Kategorisierungen zu. Außerdem haben viele einen Migrationshintergrund. Ich bin ohnehin Ausländer, meine Frau ist zwar Britin, aber ihre Familie war eingewandert. Ähnlich sah es bei vielen ihrer Arbeitskollegen aus. Kein Wunder, ist doch der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Gesundheitssystem Englands besonders hoch. Allein 19 Prozent der Beschäftigten wurden nicht in Großbritannien geboren (Ausländer und im Ausland geborene mit britischer Staatsbürgerschaft). Will sagen, unser Freundeskreis denkt sehr international.

Aber zum Glück gibt es noch den erweiterten Kreis aus Bekannten und Verwandten. Bei Treffen in größerer Runde verließen wir unsere Blase in mehrfacher Hinsicht. Endlich konnte ich in die Gedankenwelt überzeugter Brexiteers eintauchen.

Einer sprach davon, wie unmöglich er es fand, dass Großbritannien für Griechenland die Schulden begleichen müsse. Er arbeite sich doch nicht tot, nur damit seine Steuergelder andere Länder entschulden. Ein zweiter verlor darüber die Fassung, meinte, das habe er gar nicht gewusst. Unerhört! Er hatte vor allem wegen der 350 Millionen Pfund, die jede Woche an die EU überwiesen werden, für den Brexit gestimmt. Er sei froh, die Summe würde nun dem staatlichen Gesundheitssystem (NHS) zur Verfügung gestellt. Damit sprach er den berühmten roten Bus der Brexit-Kampagne an, auf dem wörtlich geschrieben stand: „We send the EU £350 million a week let`s fund our NHS instead“.

Dann war da eine ältere indische Dame. Lange hatten die Briten den Indern Vorschriften gemacht. Nach Jahrzehnten des Grübelns, ob sie britische Staatsbürgerin werden und damit zu den Kolonialherren überlaufen soll, hat sie es getan. Nur um festzustellen, dass es eine Instanz gibt, die den Briten vorschreibt, was sie tun sollen?! Nein danke, und raus aus der EU.

Während ich die Motivation der Dame noch irgendwie nachvollziehen konnte, mal abgesehen davon, dass die EU ihren Mitgliedern gegenüber nicht wie ein Kolonialherr auftritt, waren die beiden Herren Falschinformationen aufgesessen.

Es stimmt, Griechenland hatte während der Finanzkrise Unsummen an Geld von verschiedenen öffentlichen Institutionen erhalten. Allerdings war das Geld nicht geschenkt. Es wurden Kredite an Griechenland vergeben, mit niedrigeren Zinsen als Griechenland auf dem normalen Markt für Staatsanleihen hätte zahlen müssen, aber immer noch mit Zinsen.

Die Kredite kamen etwa vom Internationalen Währungsfonds (IWF). An dem ist Großbritannien zu ca. 5 Prozent beteiligt. Insbesondere wurden Kredite jedoch von Mitgliedern bzw. Organisationen der Euro-Gruppe gewährt (fast die achtfache Summe des IWF). Und hier ist Großbritannien kein Mitglied. Zu sagen, Großbritannien wäre über die EU-Mitgliedschaft gezwungen gewesen, griechische Schulden zu bezahlen, ist demnach in mehrfacher Hinsicht falsch.

Bei den berühmten 350 Millionen Pfund pro Woche, die nun zusätzlich ins Gesundheitssystem strömen sollen, gesellte sich zum Halbwissen meiner Gesprächspartner Brexit-Propaganda. Die Zahl an sich ist nicht komplett aus der Luft gegriffen. Schaut man in die Finanzberichte der EU zum Zeitpunkt des Referendums „bekam“ die EU von Großbritannien im Schnitt knapp 354 Mio. GBP pro Woche.

Allerdings flossen viele Mittel wieder ins Land zurück, durch Subventionen für die Landwirtschaft, der Förderung ärmerer Regionen oder über Forschungsgelder. Da Großbritannien eines der reichsten Geberländer ist, floss mehr Geld nach Brüssel als zurück. Die Differenz reduzierte sich aber noch um den sogenannten Briten-Rabatt, den Margaret Thatcher in den 1980ern ausgehandelt hatte. So blieben von den genannten 354 Mio. GBP noch 166 Mio. GBP die Woche übrig, oder ca. 8,6 Mrd. GBP auf das Jahr gerechnet. Immer noch ein Batzen Geld, aber kaum mehr als die Hälfte des angepriesenen Betrages.

Die Behauptung auf dem Brexit-Bus entwickelte sich schnell zu einem Skandal. Die versprochene Geldmenge wurde in kurzer Zeit als falsch entlarvt. Und die Köpfe der Brexit-Kampagne wollten den Spruch nicht als Versprechen für die Unterstützung des NHS verstanden wissen, sondern nur als Beispiel, wozu das Geld verwendet werden könnte. Vielleicht.

Gegen Boris Johnson, dem Gesicht der Kampagne, wurde gar eine Klage wegen Fehlverhaltens in einem öffentlichen Amt angestrebt [2]. Der Skandal zog sich über mehrere Jahre. Bei meinem Gegenüber war aber offensichtlich nur die missverständliche Botschaft des Busses hängen geblieben.

Doch weiter im Text. Ein wirklich, wirklich großes Thema war Einwanderung. Hier bekam ich die Empörung aus allen Ecken zu hören. Den Anfang machte ein gesetzter Herr mit Migrationshintergrund. Er erzählte mir von den Veränderungen in seiner Nachbarschaft, einem alten Einwandererviertel. Da tauchen immer mehr Araber auf, das ging ihm gehörig gegen den Strich. Nicht nur nehmen sie den Alteingesessenen die Wohnungen weg, sie wollen oft gar nicht arbeiten. Er habe nicht Jahrzehnte geschuftet nur damit sich die Neuankömmlinge auf seine Kosten ein schönes Leben machen.

Er habe gehört, die EU sei für die Einwanderung verantwortlich, also raus aus der EU. Diese Begründung bekam ich, in leicht abgewandelter Form, öfters zu hören. Mal ging es um schwarze Einwanderer, dann um Pakistani oder Inder. Nur über eine Einwanderer-Gruppe wurde in diesen Runden kaum hergezogen, jene aus EU-Staaten.

Das war kein Wunder und bestimmt nicht repräsentativ. Noch immer bewegte ich mich in einer Londoner Blase. In der Multi-Kulti-Stadt fallen weiße Kontinental-Europäer praktisch nicht auf.

Anders sieht es in Kleinstädten und auf dem Land aus. Nicht-weiße Einwanderer und ihre Nachfahren trifft man hier kaum an. So traf ich die ersten Briten, die über europäische Einwanderer herzogen, auf einer Feier von ur-englischen Freunden auf dem Land. Und das gleich im Dutzend! In der Eltern-Generation ist die EU eine fremde Macht, die ihnen jahrzehntelang vorgeschrieben hat, wie sie zu leben haben, und dafür all ihr Geld wollte. Allein wird es den Briten viel besser gehen, die Welt wartet doch nur darauf mit ihnen ganz tolle Handelsverträge abzuschließen. Außerdem haben Polen und Rumänen ihren Kindern gute Jobs weggenommen. Etwa als Automechaniker oder Klempner.

Ich war überrascht. Nicht nur vom Zerrbild der Welt und der EU, sondern auch, was die bösen EU-Einwanderer angeht. Auf dem Weg zur Feier waren wir in unserem Mietwagen durch viele Straßen geirrt, bevor wir unser Ziel fanden (dazu später mehr.) Dort hatten wir nur Menschen gesehen, denen ihre Britishness über 1000 Jahre ins Gesicht gemeißelt worden war.

Einzelne Polen und Rumänien mochte es in die Gegend verschlagen haben, aber nicht in der Zahl, dass sie einer ganzen Generation von Briten die Jobs weggenommen hätten. Auf Nachfrage ruderten meine Gesprächspartner zurück. Ihre Kinder hatten alle einen guten Job. Aber sie kannten da jemanden und der Freund dessen Sohnes habe wohl einen Job nicht bekommen, weil ein Pole ihn ausgestochen hatte. Oder so.


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[1] Meine liebste Kategorie ist jene der eigenen Identität. Briten haben eher für einen EU-Verbleib gestimmt, Engländer für leave.

[2] Boris Johnson war während der Brexit Kampagne Mitglied des britischen Unterhauses.

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