Ich liebe es, durch Metropolen zu wandern, große und kleine Sehenswürdigkeiten zu besichtigen oder einfach die Atmosphäre zu genießen. Und wo gäbe es mehr zu entdecken als in einer Stadt wie London. Doch irgendwie kam ich auf meinen Touren nicht weit. War ich im Zentrum für ein Stunde unterwegs, wurde ich müde und verlor die Lust. Erst am nächsten Tag, nach sehr ausgiebigem Schlaf, fand ich halbwegs zu alter Stärke zurück.
Anfangs dachte ich, die Erschöpfung sei Folge des Umzugs, oder meiner letzten intensiven Monate im Labor. Doch selbst nach Wochen stellte sich keine Besserung ein. Irgendwann klagte ich vor Freunden von meinen Problemen. Sie waren nicht überrascht, ich müsse erst eine Londoner Lunge entwickeln. Die Luft in der Stadt ist legendär schlecht. Viele, die erst als Erwachsene in die Stadt ziehen (und nicht nur für ein paar Tage bleiben), haben ähnliche Probleme. Nach ein paar Monaten würden sich die Beschwerden aber legen.
Ich war etwas skeptisch. Immerhin hatte ich die Stadt schon dutzende Male besucht, ohne unter derartigen Problemen zu leiden. Aber vielleicht waren meine Aufenthalte zu kurz gewesen, um die Auswirkungen zu spüren. Denn läuft man mit offenen Augen und offener Nase durch die Stadt, ist die miserable Luftqualität mitsamt ihren Folgen kaum zu ignorieren. Die Fassaden vieler Gebäude triefen vor Dreck, die Innenstadt stinkt fast überall nach Abgasen.
Weicht man unter die Erde aus, wird es nicht besser, im Gegenteil. In den U-Bahn-Stationen schweben so viele Dreckpartikel in der Luft, dass die Tunneleingänge nicht schwarz, sondern grau erscheinen. Die Polster vieler Sitze bestehen mehr aus Schmutz als aus Gewebe, und es gibt keine Klimaanlage. Spätestens im Sommer verwandeln sich die Waggons in Saunen. Abkühlung verspricht allein der Fahrtwind bei geöffnetem Fenster. Dann wird einem der Dreck aus den Tunneln direkt ins Gesicht geblasen. Nach ein paar Minuten in dieser Atmosphäre brannten meine Bronchien. Schnäuzte ich nach einer längeren Fahrt die Nase, färbte sich das Taschentuch schwarz.
Gerne gleiche ich Erzählungen oder persönliche Eindrücke mit anderen Quellen ab. Die Einschätzung der Luftverschmutzung wurde so zur ersten Recherchearbeit für mein Buch. Unsere Freunde hatten Recht, als sie die Luftqualität Londons als legendär schlecht bezeichneten. Zumindest besteht das Problem seit Jahrhunderten.
Im Mittelalter nahm die Bevölkerung der Stadt zu, ohne dass sich diese ausdehnte. Die Menschen lebten dicht an dicht, mitsamt ihren Ausdünstungen, Abfällen und Öfen. Letztere wurden zunächst mit Holz oder Holzkohle befeuert. Der Brennstoff kam aus nahgelegenen Wäldern, bis diese den Bedarf nicht mehr decken konnten. Als Ersatz diente Kohle aus der Region um Newcastle, welche ihren Weg per Schiff nach London fand. Die sogenannte Seekohle war jedoch von minderer Qualität und produzierte bei der Verbrennung viel Rauch. Ihre Nutzung wurde wiederholt verboten, zum ersten Mal 1306 durch King Edward I..
Mit Beginn der Industriellen Revolution verschlimmerte sich die Schadstoffbelastung. Unter bestimmten Wetterbedingungen waberte Smog so dicht wie Nebel durch die Straßen. Die Partikel in der Luft reagierten mit Wasser. Es konnten sich Säuren bilden, etwa Schwefelsäure. Kein angenehmer Stoff für die Atemwege. Die Sterberate stieg nach derartigen Ereignissen signifikant an. Die schlimmste Episode ereignete sich im Dezember 1952. Der Smog hing vier Tage in der Stadt und war so dicht, dass Passanten ihre Füße nicht mehr sehen konnten. Selbst in Gebäude drang er ein. Laut einer Studie starben bis zu 12.000 Londoner an den Folgen der Luftverschmutzung [1]. Die Politik reagierte mit dem Clean Air Act von 1956. Nach einer weiteren Smog-Episode 1968 wurden weitere Maßnahmen beschlossen.
Heute wird die Stadt nicht mehr von tödlichem Nebel heimgesucht, doch die Londoner Luft wirkt sich immer noch negativ auf die Gesundheit der Einwohner aus. Laut Untersuchung des King’s College verlieren sie als Folge ca. 140.000 Lebensjahre, jedes Jahr [2]. Bei fast 9 Millionen Einwohnern ist das im Schnitt nicht viel. Die Auswirkungen sind jedoch für verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark, abhängig etwa von Gesundheitszustand und Lebensumständen. So führten 2013 Luftverschmutzung in Verbindung mit Asthma bei einem neunjähriges Mädchen, Ella Kissi-Debrah, zu einem Herzstillstand, sie konnte nicht mehr gerettet werden [3]. Das Mädchen lebte in einem der ärmeren Stadteile.
Wir hätten durch die Lage unserer Wohnung weniger beeinträchtigt sein sollen. Ohnehin außerhalb des Stadtzentrums gelegen, war die Straße vor unserer Haustür kaum befahren und die Bäume der Alleen agierten als Filter.
Trotzdem konnte es in unserer Wohnung unerträglich stinken. Wie es typisch für London ist, hatte unser Bad kein Fenster. Der eingebaute Ventilator entfernte die feuchte Luft nach einem Duschgang zwar halbwegs effizient, gegen die Gerüche, welche bei Wind aus dem Rohrsystem in unsere Wohnung gedrückt wurden, war er dagegen machtlos.
Die Rohre waren wohl seit Jahrzehnten nicht mehr gesäubert worden und sonderten einen Duft ab, den ich als abgestandene Kellerluft mit einem Hauch Kloake beschreiben würde. Außerdem war unser Nachbar begeisterter Kettenraucher. Unser Bad roch in den ersten Wochen immer nach alten Zigaretten.
Dann hatte ich den Lüfter um einen abnehmbaren Verschluss und einen Kohlefilter erweitert. Meine do-it-yourself Lösung funktionierte recht gut, aber perfekt war sie nicht. Wehte ordentlich Wind, wurde der Gestank nicht nur durch das Rohrsystem gedrückt, sondern auch durch die Wände. Vor schlechter Luft gibt es in London kaum ein Entrinnen.
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[1] M.L. Belle et al., A retrospective assessment of mortality from the London smog episode of 1952: the role of influenza and pollution, Environ Health Perspect., 112(1), 6-8 (2004), doi: 10.1289/ehp.6539
[2] H. Walton et al., Understanding the Health Impacts of Air Pollution in London (2015) https://www.london.gov.uk/sites/default/files/hiainlondon_kingsreport_14072015_final.pdf
[3] https://www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2021/04/Ella-Kissi-Debrah-2021-0113-1.pdf
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