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AutorenbildAndreas Eich

Der britische Hochschul-Service-Komplex

Aktualisiert: 6. Aug. 2023

Irgendwann verlässt der Nachwuchs die nursery und startet seine Schulkarriere. Das geschieht im Alter von vier Jahren. Und mit dem Blick auf die Kosten der Kitas muss man sagen, der Ernst des Lebens kann nicht früh genug beginnen. Der Besuch einer normalen Schule ist an sich nicht mit weiteren Kosten verbunden. Der Druck auf die familiäre Brieftasche lässt also nach, oder?

Die Antwort ist ein klares ja… zunächst, oder nein, je nachdem wie sehr sie die Karrierechancen ihrer Kinder steigern wollen. Die erhöhen sich dramatisch, wenn sie ihren Nachwuchs auf eine „bessere“ Schule schicken, besonders wenn es sich um eine Privatschule handelt.

Um zu verstehen, warum bestimmte Schulen die Karriere-Chancen ihrer Kinder erhöhen, zäume ich das Pferd am besten von hinten auf und fange mit den Universitätskosten sowie den verbundenen Berufsaussichten an.



Zunächst sei gesagt, wer in Großbritannien studieren will, muss Studiengebühren bezahlen. Für einen Bachelor werden pro Jahr bis zu 9.250 GBP aufgerufen (Stand 2022). Im Master variieren die Gebühren stark von Hochschule zu Hochschule, aber ein paar tausend Pfund pro Jahr werden definitiv fällig. Entweder beginnen sie nach der nursery mit dem Sparen für die Universitätskosten ihrer Kinder, oder die finanzieren sich ihr Studium (teilweise) selbst, etwa durch Arbeit, per Stipendium oder Kredit… Womit ihr Nachwuchs mit einem gehörigen Schuldenberg ins Arbeitsleben starten würde, und noch größere Probleme hätte, Kinder oder eine eigene Immobilie zu finanzieren.

Doch, Achtung! Anders als in Deutschland gibt es auf der Insel gehörige Qualitätsunterschiede zwischen den Universitäten. Eine erste Orientierung bietet die Zugehörigkeit zur Russell Group. Dies ist eine Interessensvertretung von Hochschulen, die gewöhnlich die meisten Forschungsgelder eintreiben. Aktuell besteht sie aus 24 Mitgliedern.

Forschungsgelder sind im groben ein guter Indikator für die Qualität einer Hochschule. Je besser die Wissenschaftler sind, desto höher die bewilligten Gelder. Diese finanzieren nicht nur Labore, sondern fast den gesamten akademischen Mittelbau. Gleichzeitig ziehen bessere wissenschaftliche Bedingungen, bessere Nachwuchsforscher an. Und die werden meist in die Lehre eingebunden. Studierende werden so von mehr und besseren Mitarbeitern betreut.

Die 24 Universitäten des Zusammenschlusses machen nur 15 Prozent der britischen Hochschullandschaft aus, erhalten aber 76 Prozent aller Forschungsgelder. Auf einen akademischen Mitarbeiter kommen sieben Studierende. Bei den restlichen Hochschulen beträgt das Verhältnis 1 zu 14. Das Umfeld zahlt sich aus: Absolventen von Russell-Group-Universität verdienen im Laufe ihrer Karriere im Schnitt 10 Prozent mehr als Absolventen anderer Hochschulen.

Der Indikator Russell-Group-Universität-ja-oder-nein gibt jedoch nur eine grobe Orientierung. Es fehlt eine genauere Abstufung ihrer Mitglieder, kleine Spitzen-Hochschulen wie St. Andrews sind aufgrund ihrer Größe nicht Teil der Interessensvertretung, und wie gut die restlichen über 100 Universitäten Großbritanniens sind, weiß man auch nicht.

Doch zum Glück lieben die Briten, bzw. der gesamte angelsächsische Raum, Vergleiche. Ob Schulen, Universitäten oder Altersheime, es gibt kaum eine Einrichtung, die nicht bewertet und eingeordnet wird. Am besten in Form einer Rangliste. Die nach eigener Aussage einflussreichsten Hochschul-Rankings stammt von The Times bzw. Times Higher Education (THE), doch es gibt viele mehr.

Auf nationaler Ebene heißt die Liste Good University Guide. In der Regel stehen Oxford und Cambridge an der Spitze. Kaum schlechter schneiden die Londoner Hochschulen (Imperial College, Kings College und University College London) oder Durham University ab. Sie sind zwar international weniger bekannt, positionieren sich aber in manchem Fachbereich über den beiden Platzhirschen.

Der Andrang bei den Top-Universitäten ist so hoch, dass nur Schüler mit den besten Abschlüssen eine Chance haben aufgenommen zu werden. Die Zulassungsbedingungen der verschiedenen Hochschulen können auf www.ucas.com eingesehen werden. Wer zum Beispiel Mathe in Oxford, Cambridge oder den herausragenden Londoner Universitäten studieren will, benötigt für gewöhnlich ein A* in Mathematik, ein A* in Further Mathematics und ein A in einem dritten Fach [1], vorzugsweise in einer weiteren Naturwissenschaft. Schließlich können einige Hochschulen auf eine zusätzliche Aufnahmeprüfung bestehen.

An weniger gefragten Universitäten sind die Zulassungsbedingungen nicht so streng. Wer Mathe an der Coventry University studieren will, benötigt typischerweise Abschlussnoten im Bereich ABB-BBB, eventuell muss es sich bei einem der Fächer um Mathematik handeln. (Die Voraussetzungen variiren von Jahr zu Jahr, mehr als bei Hochschulen an der Spitze der Rankings.)

Weit geringer sind die Ansprüche am unteren Ende der Liste: Noten im Bereich CCE sind oft ausreichend, Mathematik muss nicht als Abschlussfach belegt worden sein.

Schüler mit den besten Abschlussnoten landen an den besten Hochschulen, jene mit schlechteren müssen ihr Glück an weniger guten Universitäten finden. Die guten Schulabsolventen profitieren von exzellenten Bedingungen, einschließlich des Austausches mit schlauen Kommilitonen, die schlechten eben nicht. So wird alleine die besuchte Universität zu einem Qualitätsmerkmal.

Und bei der Berufssuche scheint die Alma Mater zumindest in einigen Bereichen eine Rolle zu spielen, etwa in meinem. Jedenfalls konnte ich bei meinen Bewerbungen irgendwann ein Muster feststellen. Generell standen die Chancen auf eine Rückmeldung gut, doch gerade bei den interessantesten Jobs wurde ich garantiert nicht eingeladen.

„Interessant“ bedeutet in diesem Fall, die Stellen wiesen die größte Übereinstimmung zu meinem alten Job-Profil auf. Und in dem war ich nicht schlecht. Zumindest, wenn man all die Kennzahlen und sonstigen Infos heranzieht, die mein Arbeitsbereich hergibt. Ich habe in einigen der weltweit führenden Forschungsgruppen meines Fachgebietes gearbeitet, in den renommiertesten Journalen veröffentlicht und zahlreiche Zitationen eingeheimst.

Warum wurde ich trotzdem nicht eingeladen? Das einzige verbindende Element war, sämtliche Stellenbeschreibungen verlangten nach einem Abschluss an einer world class university, das heißt von einer Top-gerankten Universität, und den hatte ich nicht.

Ich glaube ich wurde „Opfer“ des Ranglistensystems, bzw. der unterschiedlichen Hochschulkulturen Deutschlands und des angelsächsischen Raumes.

Dabei liebe ich Rankings. Sie können einen schnellen Überblick verschaffen, etwa über die Qualität verschiedener Anbieter. Außerdem wird die Bewertung meist in einem Zahlenwert ausgedrückt. Und als Physiker liebe ich Zahlen. Als Wissenschaftler weiß ich allerdings auch, wie schwer bestimmte Parameter zu erfassen sind. Um einen Effekt möglichst direkt und durch äußere Einflüsse unverfälscht messen zu können, habe ich Experimente oft wochen- bis monatelang vorbereitet.

Wie lässt sich die Qualität einer Ausbildung bewerten? Mit standardisierten Tests? Die eignen sich vor allem, um reines Wissen abzufragen, weniger zur Überprüfung von Verständnis oder der Fähigkeit das Gelernte anzuwenden. Derartige Prüfungen gibt es international und auf diesem Niveau aus gutem Grund nicht. Daher greifen die Herausgeber der Ranglisten auf Kennzahlen zurück, von denen sie glauben, Rückschlüsse ziehen zu können.

Beim Good University Guide werden Hochschulen nach drei Hauptkategorien bewertet, deren Punktezahlen zu je 30 Prozent in das Gesamtergebnis einfließen: Lehre, Forschung, und Anzahl der Zitierungen wissenschaftlicher Beiträge. Zusätzliche Faktoren sind die Einkünfte aus dem industriellen Sektor (2,5 Prozent), sowie die Internationalität der Universität (7,5 Prozent).

Der Bereich Forschung wird unter anderem an der Menge der zur Verfügung stehenden Geldmittel bewertet und der wissenschaftlichen Produktivität, also der Anzahl veröffentlichter Artikel. In der Lehre spielt das Zahlenverhältnis von Mitarbeitern zu Studierenden eine Rolle. Im Bereich Internationalität wird auf die Anteile ausländischer Studierender und Mitarbeiter geschaut. Je mehr desto besser, denn warum sollten diese sonst zu einer bestimmten Uni kommen?

All die genannten Kategorien und Bewertungen machen Sinn. Aber jetzt versetzen sie sich mal in die Rolle eines Uni-Präsidenten und überlegen sich, wie sie in den Ranglisten aufsteigen können. Um mehr internationale Studenten und Mitarbeiter anzuwerben, müssen sie nicht notgedrungen Forschung und Lehre verbessern. Stattdessen reicht ein wenig Netzwerken aus. Etwa indem sie Austauschprogramme mit ausländischen Universitäten abschließen. Die Gaststudenten treiben die Internationalität beider Anstalten in die Höhe.

In der Lehre könnte das Mitarbeiter/Studierenden-Verhältnis durch günstige HiWis verbessern werden. Im Bereich Forschung lassen sich die Gelder nicht ohne weiteres erhöhen, aber bei der Zahl der Veröffentlichungen ist ein größerer Output mit wenigen Kniffen zu erreichen.

Anstatt einen langen Aufsatz zu schreiben, in dem ein Themenkomplex als Ganzes analysiert wird, veröffentlichen die Autoren mehrere kurze Paper, die nur Teilaspekte beleuchten. Es versteht sich von selbst, dass die kurzen Aufsätze aufeinander verweisen. Neben einem größeren Output treiben die Autoren so gleichzeitig die Zahl ihrer Zitierungen in die Höhe.

Und wenn ein Institut dauerhaft die Platzierung der Universität nach unten zieht, könnte man die entsprechende Einrichtung schließen. Positiver Nebeneffekt: Man schärft das Profil der Hochschule.

Sie sehen, obwohl einige Maßnahmen durchaus sinnvoll sind, etwa die Austauschprogramme für Studenten, verwässern sie die Aussagekraft der Kennzahlen mehr und mehr.

Inzwischen gibt es viele internationale Rankings, doch die wichtigsten stammen weiterhin aus dem angelsächsischen Raum. In der 2020er Ausgabe von THE belegt Oxford Platz eins und Cambridge Platz drei. Unter den Top-30 Universitäten sind 19 amerikanische Hochschulen zu finden, sechs aus Großbritannien und fünf aus anderen Ländern. Die erste deutsche Hochschule, LMU München, hat es auf den 32. Platz geschafft. Meine Alma Mater rangiert auf Position 149.

Die Platzierungen der deutschen Hochschulen hören sich zwar nicht nach world class an, aber mal ehrlich, wären unsere Unis im Vergleich wirklich so schlecht und damit ihre Absolventen, warum hat die Bundesrepublik immer noch konkurrenzfähige Industrien, Großbritannien aber nicht? An niedrigeren Einkommen der Beschäftigten liegt es jedenfalls nicht. Deutsche Universitäten haben ihre Abläufe nur nicht komplett auf die bestmögliche Platzierung in ausländischen Rankings optimiert.

So sehr mich meine Probleme bei der Jobsuche ärgern, so gut verstehe ich britische Arbeitgeber, die Wert auf die Herkunft des Abschlusses legen. Hier ist die Hochschullandschaft auf Rankings ausgerichtet, es gibt Qualitätsunterschiede… Und im Schnitt scheint die Ausbildungsqualität nicht sonderlich hoch zu sein, auch als Folge der Ranglisten.

In Großbritannien ist eine akademische Service-Industrie entstanden, mit einer gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Studierenden und Universitäten. Dabei ist es noch leicht zu verstehen, warum Studierende Abschlüsse an schlechten gerankten Universitäten anstreben. Ein solcher verspricht immer noch eine lukrativere Karriere als ein reiner Schulabschluss. Auf der anderen Seite sind viele britische Universitäten auf Studierende als Geldgeber angewiesen, je mehr desto besser.

Allgemein finanzieren sich britischen Hochschulen über drei Wege: Grundversorgung durch den Staat, Studiengebühren und die bereits angesprochenen Forschungsgelder. Letztere stehen den Universitäten außerhalb der Russell Group kaum zur Verfügung. Und der Staat hat seine Zuschüsse im Nachgang der Finanzkrise stark eingeschränkt. Von ca. 8 Mrd. GBP in 2010/2011 ging es runter auf knapp 4 Mrd. GBP in 2018/2019. Zur Kompensation der Finanzierungslücke durften die Unis ihre Studiengebühren anheben, von maximal 3.000 GBP pro Jahr für einen Bachelorstudiengang auf die besagten 9.250 GBP.

Für das viele Geld dürfen die Studierenden etwas erwarten. Die Chance auf ein Scheitern (Abbruch) sollte gering sein, die Studiendauer kurz. Generell ist die Kundenzufriedenheit hochzugehalten.

All diese Punkte werden oft zur Bewertung der Lehre herangezogen. Und es gibt Uni-Rankings, die sich nur auf das Lehrangebot konzentrieren, und nicht auf „Schnickschnack“ wie Forschung. In der entsprechenden Rangliste vom Guardian, Stand 2019, landen zwar die üblichen Verdächtigen auf den vordersten Plätzen. Nach den Top-10 gibt es jedoch signifikante Verschiebungen gegenüber der Times-Rangliste. So springt die erwähnte Coventry University von Rang 44 (Times) auf Platz 13 (Guardian).

Will eine Hochschule ihr Profil in der Lehre schärfen, optimiert sie nach Möglichkeit die entscheidenden Kennzahlen. Und die Versuchung ist groß, der Optimierung ein wenig nachzuhelfen, etwa indem bei schlechten Testresultaten ein Auge zudrückt, oder das Niveau der Tests absenkt wird.

Sie glauben es wird nicht nachgeholfen? Einer unserer Freunde lehrt Mathematik an einer der Top-25 Hochschulen der 2019er Rangliste des Guardian (danach gab es aufgrund der Pandemie viele Verschiebungen). Erzählt er von seinem Arbeitsalltag, hört er mit dem Schimpfen nicht mehr auf.

In Einführungskursen sitzen ihm oft über 200 Studierende gegenüber, maximal fünf können dem Stoff folgen. Es sind halt nicht die besten. Der Großteil benötigt intensive persönliche Betreuung, aber für die Menge fehlt das Personal.

Trotzdem werden viele einen Abschluss erhalten. Ein Student hat es zum Mathe-Bachelor geschafft, obwohl er gar mit dem Einmaleins Probleme hatte. Unser Freund wollte ihn zwar bei einer Prüfung durchfallen lassen, doch von höheren Stellen wurde Druck ausgeübt. Die Kunden haben ja bezahlt, die Hochschule braucht das Geld und natürlich soll eine gute Platzierung in den Ranglisten nicht gefährdet werden.

Unser Freund ist total frustriert. Warum investiert er Stunden über Stunden in die Vorbereitung von Vorlesungen, wenn niemand seine Ausführungen verstehen kann? Warum muss er entgegen seiner Überzeugung Studierende zum Bachelor durchschummeln? Zeit für seine Forschungen findet er bei der Menge an Kunden ebenfalls nicht.

Und sein Job ist trotz unbefristeter Anstellung nicht sicher. Er fürchtet ein Verfahren, das bereits in anderen Universitäten angewandt wurde, um Einsparungen vorzunehmen: Allen Mitarbeitern eines Instituts wird gekündigt. Die Entlassenen haben die Chance, sich wieder auf die verlorene Stelle zu bewerben, müssen aber begründen, warum sie für die Hochschule zum unverzichtbaren Teil des Personals gehören.


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[1] In der Regel belegen britische Schüler in ihrem letzten Jahr nur drei Fächer.

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